Tegernseer Seilschaften
man nur immer auf sich selbst und seinen eigenen Vorteil achtete.
Während ein paar Meter weiter ein Entenpärchen eifrig aufeinander einschnatterte, sog Anne tief die klare Morgenluft ein. Die Tegernseer hatten ihr erzählt, dass dieser Winter am See ein langer gewesen sei. Doch Anne spürte, dass der Frühling nun nicht mehr aufzuhalten war. Die ersten Knospen von Haselnuss, Schneeball und Ginster blinzelten in dem kleinen Garten neugierig in den Himmel.
Eineinhalb Stunden später saà Anne in ihrem Büro in der Polizeiinspektion Bad Wiessee. Sepp Kastner war noch unten bei den Autos, und so konnte sie in Ruhe die Akte aufschlagen, die Nonnenmacher ihr nun doch wieder hingelegt hatte. Nach der gestrigen Vernehmung war sie relativ sicher, dass Ferdinand Fichtner eine Freundin gehabt haben musste. Wie sollten sich sonst die vielen Abwesenheiten unter fadenscheiniger Begründung und der Geldschwund erklären lassen? Oder hatte Fichtner gar Kontakte zum Rotlichtmilieu gepflegt? Da brauchte man auch viel Geld. Dass eine der beiden Hypothesen stimmte, hielt Anne für sehr wahrscheinlich â obwohl die Vernehmung von Evi und Ferdl Fichtners Sohn Hannes ein etwas anderes Bild des Toten gezeichnet hatte: Der jüngere der beiden Söhne, zweiundzwanzigjährig und von Beruf Schreiner, hatte nur in den höchsten Tönen vom Vater gesprochen und eine Affäre desselben ausgeschlossen. Ja, sogar gelacht hatte er, als Anne ihn mit dieser Hypothese konfrontierte. Doch das musste nichts heiÃen. Erstens war in solchen Dingen das Sensorium einer Ehefrau zuverlässiger als das eines anderen Menschen, und zweitens konnte sich Anne gut vorstellen, dass Vater und Sohn gemeinsam ins Rotlichtmilieu eingetaucht waren â nach München war es nicht weit, und vermutlich gab es auch in Miesbach oder sogar noch näher Möglichkeiten, sich Nähe zu kaufen. Konnte es sein, dass der Sohn also in einer Art Vertuschungsabsicht handelte, wenn er den Charakter des Vaters in einem helleren Licht darstellte, als es der Wirklichkeit entsprach? Und noch etwas war Anne aufgefallen: Hannes Fichtner strahlte eine unterschwellige Aggressivität aus.
Während Anne so vor sich hin dachte, stieà sie in der Akte auf die Fotos des Erhängten. Sofort befiel sie wieder dieses Gefühl des Ekels, das sie immer übermannte, wenn sie gezwungen war, einen Toten zu betrachten, der keines natürlichen Todes gestorben war. Der Gesichtsausdruck der Menschen, die gewaltsam aus dem Leben geschieden waren, strahlte eine abstoÃende Fremdheit aus, ganz anders als die Mienen friedlich Verstorbener. Beim Betrachten des blassen, verzerrten Gesichts und der bläulichen Hände von Ferdl Fichtner fiel ihr ein kurioses Detail auf, das sie bei den letzten Betrachtungen nicht gesehen hatte: Einer von Fichtners Hosenträgern war nicht am Hosenbund befestigt, sondern lief leicht schräg über die Brust und zwischen den Beinen hindurch. Ein anderes Foto mit einer Ansicht von Fichtners Rücken zeigte, dass dieser Hosenträger am hinteren Hosenbund in der Mitte festgemacht war. Was hatte das zu bedeuten?
Gerade, als Anne diese mysteriöse Entdeckung gemacht hatte und sie sich fragte, wie sie das früher übersehen haben konnte, betrat Sepp Kastner das Zimmer.
»Oha, ja was haben wir denn da? Wenn meine Augen mich nicht täuschen, schmökert die Frau Kollegin Loop in der Fichtner-Akte. Hat Ihnen der Kurt diesen Fall nicht entzogen?«
»Doch, aber das war nur vorübergehend. Jetzt hat er ihn mir wieder übertragen.«
»Aha. Und warum?«
»Weil wir weiterermitteln.«
»Aha, und darf ich fragen, weshalb?«
»Weil der Fichtner wahrscheinlich keinen Selbstmord begangen hat.« Anne berichtete von den Ergebnissen ihres Besuchs bei Evi Fichtner. Doch Sepp Kastner hörte nur halb zu. Stattdessen dachte er darüber nach, wie er diese Superbraut klarmachen konnte. Wie würden die anderen schauen, wenn er sie eines glücklichen Tages als seine Freundin präsentierte? Aber er brauchte einen Plan: Sollte er sie zum Eisessen einladen? Oder war das für eine Angelina Jolie zu wenig? War vielleicht ein gemeinsamer Pizzaabend passender? Oder sollte er ihr â auch, um die Ernsthaftigkeit seiner Pläne zu unterstreichen â testweise anbieten, ihr Kind zu adoptieren, damit es einen Vater habe? Na, das war vielleicht zu viel, aber wer weiàâ¦
»Was
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