Tempus (German Edition)
Englisch: »Hi, ich bin Giulio. Ich sein von Sizilien. Wo du herkommen? Aus Deutschland?«
Da ich nicht noch mehr Aufsehen erregen wollte als ohnehin schon, nuschelte ich: »Nein, aus Schweden.«
»Und wie heißen du?«, wollte er umgehend wissen.
»Elina.«
»Schöne Name. Wollen wir trinken Kaffee?« Er glitzerte mich mit seinen dunklen Knopfaugen an.
»Nein danke.« Ich schüttelte den Kopf.
»Warum?«, fragte er.
»Keine Zeit.«
Er ließ nicht locker: »Warum? Du haben Urlaub.«
Langsam platzte mir der Kragen. »Lass mich in Ruhe«, fuhr ich ihn an und stieg Hals über Kopf bei der nächsten Station aus. Augenblicklich war ich von zahlreichen Touristen umringt. Mehrfach blickte ich mich um. War mir dieser Giulio gefolgt? In dem dichten Gedränge konnte ich ihn nirgends entdecken. Schon bald hatte ich ihn vergessen, denn vor mir befand sich ein imposantes weißes Gebäude, zu dem eine breite Marmortreppe hinaufführte. Was das wohl wieder war? Zu dumm, dass ich mir nicht Eriks Reiseführer ausgeliehen hatte! Eher zufällig hörte ich, wie ein Tourist neben mir seiner Begleiterin erzählte, dass es sich dabei um das Nationaldenkmal für Vittorio Emanuele handelte. Mir sagte das nichts. Dafür war ich mir inzwischen sicher, dass ich das Gebäude gestern bei unserem Streifzug über das Forum Romanum bereits gesehen hatte. Die bronzenen Pferde auf dem Dach kamen mir bekannt vor.
Mit Eriks Tasche in der Hand lief ich die Stufen zu dem Gebäude hinauf, vorbei an einem Reiterstandbild bis nach oben zu einem Kolonnadengang. Von dort aus hatte ich einen überwältigenden Blick auf Rom. Die Stadt schien nur aus Sehenswürdigkeiten zu bestehen, die in flirrendes Licht getaucht waren und über denen ein Hauch von Vergangenheit schwebte.
Unterhalb von mir lag ganz in der Nähe, wie ich es schon vermutet hatte, das Forum und dahinter das Kolosseum. Zu Fuß dürfte es nicht allzu weit bis zum Hotel sein, schätzte ich. Ich entschied, zurück zu unserer Pension zu gehen, um Eriks Tasche loszuwerden und zu duschen. Es war ein heißer Tag und meine Jeans klebte bereits unangenehm am Körper.
Beim Hinuntergehen der Treppe, ich hatte schon gar nicht mehr an ihn gedacht, tauchte unvermittelt Giulio vor mir auf. Der Junge aus dem Bus hatte mich ebenfalls entdeckt und kam grinsend auf mich zu, die Hände in seinen Hosentaschen vergraben.
Mist! Eilig wandte ich mich ab und mischte mich am Fuß der Treppe unter eine amerikanische Touristengruppe, in deren Schutz ich auf das Forum Romanum zusteuerte. Ich wurde geschoben, geknufft und in die Fersen getreten. Am schlimmsten jedoch war die Wolke aus süßlichem Parfüm und Schweißgeruch, die mich umgab. Fix und fertig kam ich beim Forum an. Mit dem Ticket in der Hand, das mir Erik gestern gegeben hatte, schlängelte ich mich durch den Eingang in Richtung Ruinen. Immer wieder blickte ich über meine Schulter, aber der sizilianische Junge war mir, wie ich gehofft hatte, nicht gefolgt. Ich atmete auf und drosselte mein Tempo. Es war schwül geworden; ich war durchgeschwitzt und hatte Durst. Ein Schluck Wasser wäre jetzt genau das Richtige! Gerade wollte ich nach einem Kiosk Ausschau halten, da trat Giulio hinter den Überresten einer Mauer hervor und griff nach meinem Arm. Ich stieß einen spitzen Schrei aus. Ein paar Touristen drehten sich nach mir um.
»Lass mich los«, fauchte ich auf Englisch, als ich mich von dem ersten Schrecken erholt hatte.
»Nur eine Kaffee. Bitte!«
Ich schüttelte den Kopf, befreite mich aus seinem Griff und beschleunigte erneut meinen Schritt. Bei dem Versuch, ihn abzuhängen, rempelte ich versehentlich mehrere Touristen an, die mir böse Blicke zuwarfen. Ich entschuldigte mich und hetzte weiter, in der rechten Hand Eriks Tasche und in der linken noch immer das Ticket.
Statt das Kolosseum direkt anzupeilen, lief ich – soweit das möglich war – kreuz und quer, in der Hoffnung, Giulio würde dadurch meine Spur verlieren. Doch er blieb mir auf den Fersen. Mein Herz raste. Ich fühlte mich wie ein gejagtes Tier, das früher oder später in sein Verderben rannte. Immer wieder versperrte mir irgendjemand oder irgendetwas den Weg. Ich war völlig kopflos. Erst als ich kaum noch Luft bekam und mir meine Beine nicht mehr gehorchen wollten, blieb ich stehen. Keuchend sah ich mich um. Ich befand mich auf einem Hügel, auf dem es zwar jede Menge Ruinen gab, die jedoch definitiv nicht zum Forum Romanum gehörten. Das lag, wie ich mit einem Blick
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