Tempus (German Edition)
Ein vornehm aussehender, grauhaariger Mann, der ebenfalls wie ein Römer gekleidet war, erhob sich bei unserem Anblick von einem altmodischen Stuhl, der wie eine Theaterrequisite aussah.
»Herr, dieses Mädchen habe ich ganz in der Nähe des Hauses in einem Gebüsch gefunden«, sagte Kleon zu dem vornehmen Mann. »Sie hatte sich dort versteckt und gibt vor, kein Latein zu sprechen.«
»Warum auch? Kein Mensch spricht heute mehr Latein«, stieß ich auf Englisch hervor. Ich wunderte mich selbst darüber, wie gut ich Kleon verstanden hatte. Wer hätte gedacht, dass sich der Lateinunterricht in der Schule noch mal als so hilfreich erweisen würde?!
Der vornehme Mann kam näher und betrachtete mich neugierig von oben bis unten. »Was hast du gesagt? Deine Sprache habe ich noch nie gehört. Woher kommst du? – Du bist seltsam gekleidet.«
»Ich komme aus Schweden und will zurück zu meinem Vater ins Hotel. Wenn du mich nicht gleich gehen lässt, rufe ich die Polizei. Der erzähle ich dann auch, dass mich DER da geschlagen hat.« Ich ließ meine noch immer brennende Wange los und zeigte auf Kleon.
»Ich kann sie nicht verstehen.« Der Vornehme schüttelte unwillig den Kopf.
»Wir auch nicht«, sagte Kleon. »Vermutlich ist sie eine Sklavin aus dem Norden, die noch nicht lange in Rom ist.«
Wieder hatte ich dem Gespräch der Männer einigermaßen folgen können. Da sie sich nach wie vor stur stellten und Lateinisch sprachen, gab ich mir einen Ruck und sagte so gut ich konnte ebenfalls auf Latein: »Jetzt hört endlich mit diesem Spiel auf!«
»Ah, sie kann unsere Sprache doch ein wenig. Hätte mich auch gewundert, wenn nicht«, meinte der Vornehme. »Von welchem Spiel redest du?«
»Dass ihr Lateinisch sprecht und so tut, als ob ihr Römer seid.« Beinahe hätte ich mit dem Fuß aufgestampft, was sicherlich nicht besonders erwachsenen gewirkt hätte.
Der Mann zog die Augenbrauen hoch, was mich an Hedda erinnerte, und näselte auf Latein: »Wir sind Römer!«
»Kein Mensch spricht heute ...«, setzte ich an.
»Was hast du hier zu suchen?«, unterbrach er mich scharf.
»Ich habe mich verlaufen. Ich ...«
Wieder fiel mir der Mann ins Wort: »Was hast du da in deiner Hand?« Er starrte auf Eriks Arzttasche, die ich noch immer bei mir trug.
Bevor ich antworten konnte, knallte im Haus eine Tür. Stimmen ertönten; sie klangen aufgeregt. Scheppernd fiel etwas zu Boden, jemand fluchte. Kurz darauf stürmten bewaffnete Männer in kurzen Tuniken und mit ledernen Brustpanzern zu uns ins Zimmer. Was hatte das schon wieder zu bedeuten? Ich begriff gar nichts mehr! Mein Herz bebte jetzt so sehr, als wollte es seinen angestammten Platz verlassen, weil dieser ihm zu gefährlich geworden war. Kleon und der vornehme Mann erschraken ebenfalls. Ich konnte es an ihren Gesichtern erkennen.
Zwei der bewaffneten Kerle stützten einen jungen Mann, der am Oberschenkel eine klaffende Wunde hatte, aus der es stark blutete.
»Marcius, mein Sohn, was ist geschehen?« Der vornehme Mann eilte auf den Verletzten zu. Für einen Moment wich alles Würdevolle von ihm.
»Halb so schlimm. Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung mit ...«
»Psst«, machte sein Vater und schaute vielsagend auf mich.
»Wer ist das?«, fragte der junge Mann, der offenbar Marcius hieß und schätzungsweise neunzehn Jahre alt war. Für den Bruchteil einer Sekunde streifte sein Blick mein Gesicht. Seine Augen waren gelblich braun, mit grünen Sprenkeln darin. Sie erinnerten mich an das Farbenspiel und die Weite der afrikanischen Steppe. Es waren gute, kluge Augen. Feine Linien, die Vorboten von Lachfältchen, umrahmten sie. Aber auch eine gewisse Traurigkeit sah ich in seinen Augen schimmern. Ich erkannte sie sofort. Ich konnte sie förmlich riechen, vermutlich weil ich mich mit Traurigkeit auskannte.
»Sie ist möglicherweise eine Sklavin aus dem Norden, die für IHN spioniert«, antwortete sein Vater.
Marcius’ Steppenaugen wanderten auf eine Weise über mein Gesicht, die mir meine Angst etwas nahm. Ich hatte zwar noch immer keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte und was die Männer von mir wollten, eines jedoch stand hundertprozentig fest: Marcius’ Wunde war echt. Sie war so real wie das nachlassende Hämmern in meiner Brust. Pausenlos rann das Blut an seinem Bein hinunter und tropfte auf den Steinboden. Vielleicht war es auch dieser Anblick, der mich meine Angst vergessen ließ und in mir ein Gefühl von Normalität erzeugte.
»Die Wunde muss
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