Tempus (German Edition)
Und außer uns beiden weiß es niemand.« Ich lächelte zaghaft. Um Marcius’ Mundwinkel zuckte es. Er stand halb abgewandt von mir und schien, über eine Antwort nachzudenken. Ganz sacht legte ich meine Hand auf seinen Arm. Abrupt drehte er sich zu mir, nahm mein Gesicht in seine Hände und zog mich mit ungeheurer Kraft an sich. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich nicht wehren können. Er presste seine Lippen auf meine. Wieder und wieder. Wie ein Wirbelwind, der über mich hinwegfegte.
Genauso unvermittelt, wie er begonnen hatte, hörte er auf. Schwer atmend lehnte er seine Stirn gegen meine. »Das hätte ich nicht tun dürfen.« Er klang zerknirscht.
Ich streichelte ihm vorsichtig über die Wange. »Warum nicht?«
»Es war falsch. Wir dürfen das nicht tun. Du musst zurück in deine Zeit, Elina. Du kannst hier nicht bleiben.«
»Es gibt keinen Weg zurück, wie du selbst gesehen hast!«
Seine Stirn berührte nach wie vor meine. »Du musst es versuchen. Jeden Tag mehrmals. Du musst, Elina«, sagte er beschwörend. »Du gehörst nicht hierher. Du musst fort. Insbesondere jetzt. Rom ist ein gefährlicher Ort. Das weißt du bestimmt besser als ich. Elina, ich flehe dich an. Du musst es versuchen. Und sprich mit niemandem darüber, woher du kommst. Es ist besser, wenn dein Geheimnis unter uns bleibt.«
»Ich kann es nicht ständig versuchen. Wirklich nicht. Wie stellst du dir das vor? Mein Leben würde nur noch von Angst bestimmt sein.«
»Wieso?«
»Ich hätte vor jedem Versuch Angst. Angst, dich für immer zu verlieren. Aber auch Angst, dass es nicht klappt und ich meine Eltern nie mehr wiedersehe. Kannst du das nicht verstehen? Ich kann nicht jede Sekunde meines Lebens in Angst verbringen.«
»Du hast Angst, mich zu verlieren?« Er schob mich ein wenig von sich weg, um mir besser in die Augen sehen zu können.
»Ja. Ich habe das Gefühl, ich habe die ganze Zeit nur auf dich gewartet. Sogar schon, als ich noch in Schweden war. Ich, ich ...« Mir fehlten die Worte.
Ich sah, wie es in seinem Kopf arbeitete.
»Könnte ich glücklich werden in deinem Land und in deiner Zeit?«, fragte er nach einer Weile.
Ich legte den Kopf schief und dachte nach. »Nein, bestimmt nicht.«
»Warum nicht?«
»Du würdest ...« Ich suchte erneut nach den richtigen Worten. »Du würdest dich fremd fühlen. Nichts käme dir vertraut vor. Unser Leben hat keine Ähnlichkeit mit eurem. Es gibt bei uns lauter Dinge, die du nicht kennst. In Rom bist du außerdem ein wichtiger Mann. Bei mir zu Hause wärst du einfach nur ein Fremder.«
»Du scheinst keine so großen Schwierigkeiten zu haben, dich in meiner Welt zurechtzufinden«, bemerkte er.
»Ich nehme an, weil ich deine Zeit aus den Geschichtsbüchern kenne. Sie ist dadurch nicht ganz so überraschend für mich.«
»Geschichtsbücher? Sind darin die gesamten zweitausend Jahre beschrieben, die uns trennen?«
»Na ja, zumindest die wichtigsten Ereignisse.«
»Eure Bibliotheken müssen sehr groß sein«, staunte er. »Wie auch immer: Ich kann Rom ohnehin nicht verlassen. Nicht jetzt. Rom braucht mich.«
Gemeinsam blickten wir auf die Stadt hinunter. Der Wind hatte die Wolkendecke endgültig auseinandergerissen. Helles und dunkles Blau sickerten durch die Luft und verteilten sich am Himmel, so als wäre ein Tuschkasten ausgelaufen, der nur aus diesen beiden Farben bestände.
»Und was machen wir nun?«, fragte ich leise.
Marcius hatte seine Hände im Nacken verschränkt. »Ich weiß es nicht. Ich muss darüber nachdenken und dafür muss ich allein sein. Wir sollten zurückreiten.«
»Vorher möchte ich noch einen Kuss«, sagte mein Mund, ohne mich vorher um Erlaubnis zu bitten.
»Nein.« Marcius bohrte mit der Fußspitze im Boden.
»Bitte!«
»Das wäre nicht richtig.«
»Aber schön.«
Er lachte kurz auf. Es klang rau. Widerstrebend nahm er mich in die Arme und küsste mich. Dieses Mal ganz zärtlich. Ich hörte zwar keine Geigen spielen, … aber die Erde: Sie fing an, sich um mich zu drehen.
Nur ein Kuss
Das konnte doch wohl nicht wahr sein?! Das konnte er mir nicht antun! Wie konnte er mich so zappeln lassen? Seit unserem gestrigen Ausflug hatte ich ihn nicht mehr gesehen und gleich wurde es dunkel. Ich wusste genau, dass er sich irgendwo im Haus aufhielt. Aber für mich blieb er unsichtbar. Noch eine Nacht voller Ungewissheit würde ich nicht aushalten. Fortwährend musste ich an Marcius und unseren Kuss denken. Wenn ich die Augen schloss, fühlte
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