Terra Madre
sowie einen Großteil Europas und des Mittleren Ostens beherrschte, im wahrsten Sinne des Wortes ihre Existenzberechtigung. Der Niedergang kam nicht plötzlich, er dauerte drei Jahrhunderte lang. In jeder Ecke des Imperiums entstanden damals Pfarrgemeinden, autonome Zonen, in denen sich eine neue Kultur, neue Regeln, ein neues Verständnis des Zusammenlebens entfalteten. Die Pfarreien wurden schrittweise zu eigenständigen – auch großräumigen – Territorien. Ihre stärkste Entwicklung fand natürlich dort statt, wo die Zentralgewalt am schwächsten war. Interessant ist übrigens, dass der Name der Pfarreien (ital.: pievi ) sich vom lateinischen plebs (Volk), herleitet. Die Ausgestaltung eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens folgte einem von unten, vom Volk kommenden Ruf nach neuer Organisation. Da sich die Menschen damals um eine Kirche gruppierten, könnte man auch in diesem Zusammenhang bereits von einer Vernetzung sprechen.
Vieles ist vergleichbar zwischen diesen Pfarreien und den Lebensmittelbündnissen. Ihre Bescheidenheit, ihre Direktheit und ihre Wirklichkeitsnähe sind eine Antwort auf die Zeichen des Zerfalls, die im globalen Imperium des Agro-Business sichtbar werden. Einigen wenigen multinationalen Konzernen – den wichtigsten fünf – ist es fast gelungen, sich ein Monopol auf das Saatgut, den Boden, die Viehzucht und die auf den Feldern und in den Ställen nutzbare, ständig abnehmende Artenvielfalt zu sichern. An diesem Punkt brachten sie die GVOs, die gentechnisch veränderten Organismen ins Spiel, um ihre Herrschaft endgültig unanfechtbar zu machen. Aber nach einem Jahrhundert ungehinderter Expansion, territorialer Einmischung und Schädigung sowohl der biologischen Vielfalt als auch der lokalen Kulturen und des wirtschaftlichen und ökologischen Gleichgewichts gerät das Imperium ins Wanken. Die gegenwärtigen Krisen haben einen ersten wichtigen Stillstand bewirkt, der das Handeln der globalen Unternehmen stark in Frage stellt. Sie gehören weiterhin zu den Mächtigen der Welt, da sie den Lebensmittelmarkt beherrschen. Die Bündnisse von Terra Madre bieten jedoch eine gesunde Alternative zum System der multinationalen Konzerne, denn sie stehen außerhalb dieser Märkte, außerhalb dieser Vorstellungen von Wirtschaft, Lebensmitteln und Landwirtschaft. Während die Nahrungsmittelmultis sich vergeblich bemühen, neue Produkte aufzutreiben, die ihnen auch in Zukunft die Beherrschung der globalen Märkte sichern, ignorieren die Lebensmittelbündnisse, ebenso wie einst die Pfarreien, das Diktat von oben und gehen auf ihrem Weg voran, von unten her, mit dem Plebs und dank dem Plebs. In diesem Zusammenhang verliert selbst der Terminus Plebs seinen abwertenden Unterton. Um das überlieferte Wissen zu bewahren und nachhaltig zu produzieren, arbeiten die Bündnisse sowohl traditionell als auch innovativ (z. B. durch Verwendung des Internets). Sie nutzen die guten Seiten der Globalisierung, um sich Gehör und Durchschlagskraft zu verschaffen. Dadurch wird ihnen bewusst, dass sie nicht allein auf der Welt sind. Sie sind ein Netzwerk, das seine Werte mit anderen teilt.
Die »Pfarrgemeinden dieses Jahrtausends« lassen sich von der Natur leiten, ohne sie beherrschen zu wollen. Durch die einfache Tatsache, dass sie ihre eigenen Lebensmittel produzieren, weiterverarbeiten und genießen, vollbringen sie in Wirklichkeit eine viel tiefgreifendere Leistung: Sie verhelfen der Existenz des Menschen als Teil von Terra Madre wieder zu mehr Bedeutung. Die Lebensmittelbündnisse werden zum Ort eines neuen Humanismus, wo Ethik und Ästhetik wieder verschmelzen. Das Engagement des Einzelnen innerhalb eines Kollektivs schafft eine Perspektive auf lokaler wie auch globaler Ebene.
Von vorne anfangen: Analyse des Satzes
»Der Mensch isst Lebensmittel«
Eines Tages unterhielt ich mich mit dem Regisseur Ermanno Olmi am Rande der Vorführung seines Films »Terra Madre«, den er den Lebensmittelbündnissen, ihrem Netzwerk und der alle zwei Jahre in Turin stattfindenden Veranstaltung gewidmet hat. Wir stimmten darin überein, dass wir unsere Lebensmittel nicht mehr kennen und vielleicht wieder in die Schule gehen sollten, um uns ihre Grundlagen anzueignen. »Es ist wie das Wiedererlernen der Satzanalyse, um die Bedeutung eines Textes zu verstehen: Subjekt, Prädikat, Objekt. Man muss wieder von vorne anfangen«, sagte Olmi.
Analysieren wir also eine einfache Aussage, auf der unser Überleben gründet: »Ich esse
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