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Terra Madre

Terra Madre

Titel: Terra Madre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Petrini
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glauben.
    Lebensmittel sind heute in erster Linie ein Produkt, das gekauft werden soll. Wir reduzieren unser Verhältnis zum Essen fast ausschließlich auf den wirtschaftlichen Aspekt. Das ist sowohl die Grundlage als auch die Folge eines Systems, das den Lebensmitteln Wert und unserem Leben Sinn entzieht. Für viele hat dieses System die Bedeutung des Verbs »essen« verzerrt und vom Aktiv ins Passiv verwandelt.
    Die Lebensmittel sind so schizophren geworden wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, sie besitzen sie eine »gespaltene Persönlichkeit«. Diese zeigt sich sowohl in ihren Eigenschaften als auch in der Art, wie sie von den meisten wahrgenommen werden – eine Doppelzüngigkeit, die in Wirklichkeit Ausdruck von Nicht-Nachhaltigkeit ist.
    Das Recht auf Genuss
    Am Anfang der Terra-Madre-Idee steht eine 1989 ins Leben gerufene Bewegung, die heute weltweit fast 100.000 Mitglieder zählt – Slow Food. Von Beginn an hatte die Vereinigung nicht nur einen Namen, sondern auch einen Untertitel, der ihr programmatisches Manifest begleitete: Movimento per la tutela e il diritto del piacere (Bewegung zur Wahrung des Rechts auf Genuss). Vor 20 Jahren klang das für viele wie eine Provokation freigeistiger Studenten, fast wie ein Scherz. Auch von der internationalen Presse wurde das Ganze als Kuriosität aufgefasst, vor allem weil der Name sich dem grassierenden Phänomen Fast Food entgegenstellte.
    In den letzten 20 Jahren ist viel Wasser den Tiber hinuntergeflossen. Slow Food gelang es mittels seiner Initiativen ganz konkret, ein Stück Biodiversität und Tradition zu erhalten, zahlreiche Menschen in puncto Geschmack und Ernährung zu schulen, eine Universität der gastronomischen Wissenschaften zu gründen und das Netzwerk von Terra Madre auf den Weg zu bringen – um nur die Hauptaktivitäten zu nennen. Beim Thema Genuss haben unsere vielfältigen Bemühungen für Nachhaltigkeit und bessere Lebensmittel für alle jedoch nicht den erhofften Effekt erzielt. Genuss bleibt ein Tabu, weil er nach wie vor als unvereinbar mit Engagement und »ernsthaften Dingen« abgelehnt wird.
    Genuss beim Essen ist ebenso wie alle anderen Genüsse ganz natürlich und dürfte daher an sich nichts Schlechtes sein. Stattdessen wird er mit Sünde in Verbindung gebracht und als oberflächlich abgetan, er gilt als unpopulär, führt zu moralischem Juckreiz, zu Vorwürfen seitens der »Gesinnungsgenossen« und zu Ermahnungen von Gesundheitsaposteln. Die Wurzeln dieses Verhaltens, das auch heute noch ein heikles Problem darstellt, reichen bis ins Mittelalter zurück, als die Leitbilder von strenger Lebensführung, Mäßigung und Diäthalten abgelöst wurden von Ideologien und Verhaltensweisen, die auf dem Begriff des »Exzesses« fußten. Der Exzess offenbarte sich im Überfluss, aber auch in der Entsagung. Auf der einen Seite mussten die mittelalterlichen Herrscher ausufernde Opulenz zur Schau stellen, auf der anderen wurde Entsagung als Zeichen von Vollendung und Heiligkeit verstanden. Die Freude am Essen zählte zu den zwiespältigsten Lüsten – zusammen mit dem Sex, mit dem sie nicht zufällig eng verwandt ist – und fand ihren offenkundigsten Ausdruck im Spannungsfeld zwischen Exzess und Entsagung.
    Das ist heute nicht anders. In der Konsumgesellschaft wird Macht vor allem an wirtschaftlichem Reichtum gemessen. Sie ist auf direkt proportionale Weise mit Geld verknüpft. Reichtum wird als Opulenz, als Genussfreude, als Fähigkeit, sich alle materiellen Wünsche erfüllen zu können, zur Schau gestellt. Auch wer vorher nicht reich war, verhält sich so, sobald er es geworden ist. Vielleicht ist dies für viele die einzige Möglichkeit, in der Wüste der Konsumgesellschaft ihre eigene Existenz bestätigt zu sehen. Wer hingegen arm ist, kann keine Macht ausüben, muss auf Genuss verzichten. In vielen Kreisen gelten Genuss und Tugend noch immer als unüberwindbare Gegensätze: in der Religion, in vielen politischen Ideologien und in der Welt des ökologischen Bewusstseins. Wenn Genuss in Exzess ausartet, wenn ihn sich nur die Reichen leisten können, ist er für viele unvereinbar mit dem Verlangen nach Heiligkeit, mit politischem Engagement oder dem Schutz der Umwelt. Genuss muss abgelehnt werden, auch in letzter Instanz.
    Wer nicht weiß, was Slow Food macht, was Terra Madre ist und was man unter den Prinzipien einer neuen gastronomischen Wissenschaft versteht, für den liegt es nahe, einer »Bewegung zur Wahrung des Rechts auf Genuss« mit Vorurteilen

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