Terra Madre
respektiere, bin ich rückständig, wenn ich die Regeln der ökologischen Verantwortung befolge, bin ich lästig, wenn mir die Bedeutung der bäuerlichen Welt wichtig ist, bin ich auf der Suche nach der ländlichen Idylle …
All diesen Gemeinplätzen kann man kaum ausweichen, wenn man über den Stellenwert der Lebensmittel und der Landwirtschaft, über nachhaltige Produktionsmethoden und verantwortungsvollen Konsum sprechen will. Bei Slow Food stellt man eine stetige Zunahme solcher kritischen Äußerungen fest. Irgendetwas ist also unbestreitbar in Bewegung: Das Essen rückt aus den verschiedensten Gründen immer mehr in den Mittelpunkt unserer Gedanken und Gespräche. Doch anstatt Vergnügen und Freude zu bereiten, wie es eigentlich der Fall sein sollte, führt es zu Unsicherheit, Sorgen und Ängsten. Ein Vorgang, der für unser Überleben absolut unverzichtbar ist, wird zum Problem.
Das Essen ist in der heutigen Zeit von zahlreichen Widersprüchlichkeiten geprägt. In unserer Welt gibt es Hunger und Unterernährung, gleichzeitig nehmen Krankheiten wie Fettsucht und Diabetes zu – zwei Seiten derselben Medaille. Wir fordern Qualität und beklagen uns über ihren hohen Preis, geben aber ohne mit der Wimper zu zucken dieselbe Summe für junk food oder minderwertige Konsumgüter aus. Im Fernsehen boomen die Kochsendungen, aber wir können nicht mehr selbst kochen. Wir essen alles, worauf wir Lust haben, und anschließend schwitzen wir im Fitnessstudio, um abzunehmen. Zur gleichen Zeit kämpfen Menschen für die Rettung bedrohter Rassen und Arten, fördern das in unseren ländlichen Gebieten noch vorhandene Gute, erziehen zur Freude am Essen – und werden dafür als elitär abgestempelt. Genuss mit Engagement zu verbinden scheint aus kulturellen und zugleich wirtschaftlichen Gründen unmöglich geworden zu sein.
Wie konnte das geschehen? Die Lebensmittel sind unsere engste Verbindung zur Außenwelt, zur Natur. Essen lässt uns Teil eines komplexen Systems werden, das die Alten als den »Atem der Erde« bezeichneten. Gemeint ist der Stoffwechsel, der die Lebewesen von der unbeseelten Materie unterscheidet. Wir haben einen Stoffwechsel. Das, was wir essen, hat einen Stoffwechsel. Die Erde hat einen Stoffwechsel. Alle lebenden Prozesse sind eng miteinander verbunden. Vielleicht liegt die Ursache des Problems in einem Entwicklungsmodell, das bei allen menschlichen Aktivitäten die Oberhand gewonnen hat, auch bei der Erzeugung von Lebensmitteln. Mit der Industrialisierung und der Vorherrschaft einer reduktionistischen und mechanistischen Sicht begann der Siegeszug des Konsumismus. Wir wurden zum homo consumens.
Der Mensch bildet sich ein, außerhalb des natürlichen Zyklus zu stehen und nach Belieben über die Natur verfügen zu können. Er vertraut auf seine Fähigkeit, alle Dinge selbst herstellen zu können. Daher glaubt er, auch die Produktion, die am engsten mit der natürlichen Welt verbunden ist, seinen Gesetzen unterwerfen zu können: Nahrungsmittel wurden vom lebendigen, identitätsstiftenden Element, einem Wunder der Natur, das sich in Kultur wandelt, zu einem Produkt wie jedes andere. Sie müssen sich allen Regeln des Konsumismus beugen, angefangen bei den Gesetzen des Marktes bis hin zu jenen der Verschwendung.
Unser Lebenshintergrund, der aus praktischem Wissen, einem überlieferten Erfahrungsschatz sowie der Fähigkeit besteht, mit der Natur in Einklang zu leben, wurde einfach ausgelöscht und vergessen. Aber nicht nur das für ländliche Gesellschaften typische Kulturerbe wurde weggefegt. Vor allem unser Verhältnis zu den Lebensmitteln, zum Verb »essen«, hat einen dramatischen Bruch erlitten. In dieser Beziehung können wir viel lernen von den traditionellen Gesellschaften, die – meist unbewusst – in einem ganzheitlichen Geist lebten und es noch heute mit Gewinn tun, unabhängig davon, ob sie verhältnismäßig modern beziehungsweise reich waren oder nicht.
Essen führt heute zu Unsicherheit, Sorgen und Ängsten, weil wir uns anmaßen, die Natur und damit auch die Nahrung aus unserem Lebensumfeld auszuschließen. Wir missachten die Bedeutung einer Tätigkeit, die wir täglich mindestens dreimal vollziehen. Die Erzeugung und Weiterverarbeitung der Lebensmittel ist aus unseren Häusern verschwunden und wurde an Dritte übertragen. Wir kennen die Geheimnisse unserer Nahrung nicht mehr und müssen sie deshalb mit Geld kaufen, so wie wir alles kaufen, was wir brauchen – oder zu brauchen
Weitere Kostenlose Bücher