Terra Madre
Lebensmittel« oder »Wir essen Lebensmittel«. Es scheint banal, einen so einfachen Satz genauer zu betrachten. Aber gerade weil der Satz banal ist, denkt niemand mehr über seine Bedeutung nach. In Wirklichkeit leidet er aber unter dem Paradox, das ihm vom globalen Nahrungsmittelsystem aufgezwungen wurde. Seine aktive Form wandelte sich in unserer Zeit langsam, aber unaufhaltsam in die passive Form: »Wir werden von den Lebensmitteln aufgegessen.«
Die Lebensmittel essen uns auf, weil sie die Erde, ihre Ressourcen und ihre Möglichkeit zur Erneuerung aufessen. Und da wir nicht außerhalb der Erde stehen, sondern nur ein Teil der Natur unter vielen sind, werden auch wir von den Lebensmitteln aufgegessen. Wenn wir Konsumenten, also »Ver-braucher« der Lebensmittel sind, lassen wir uns in Wirklichkeit von ihnen verbrauchen. Zygmunt Bauman [3] meinte zum Thema Konsumismus: »Jeder, der Teil einer Konsumgesellschaft ist, ist seinerseits ein Konsumprodukt.« Das geschieht auch mit den Lebensmitteln, die Teil dieses Systems sind.
Der Konsumismus ist eine Ideologie, die die Ressourcen plündert, verschwendet und am Ende unsere Bedürfnisse nicht wirklich befriedigt. In der Welt der global-industriellen Lebensmittel erreicht sie ihren Höhepunkt: Wir sind Produkte des Konsums und können daher unserer Seele beraubt und wie ein Serienprodukt verschwendet und benutzt werden, ohne je einen Zustand wirklichen Wohlbefindens zu erreichen. Die Lebensmittel essen uns auf. Wir werden vom Subjekt zum Objekt des Satzes und vergeben damit unsere Chance, eine aktive Rolle zu spielen.
Die Lebensmittelbündnisse dagegen stehen außerhalb dieses Systems. Sie sind aktiv und damit das wahre Subjekt unserer Satzanalyse: Sie essen die Lebensmittel und werden nicht von ihnen gegessen, sie können Erzeuger und Koproduzenten sein. Sie beherrschen diesen Prozess, der Leben spendet und garantiert, aber sie tun es auf respektvolle Weise. Sie befehlen nicht, sie lenken. Das Schöne und in seiner Einfachheit fast schon Revolutionäre dabei ist, dass jeder von uns zu einem Lebensmittelbündnis gehören kann. Oft sind wir bereits Teil eines solchen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Oder es gibt vielleicht ein Bündnis ganz in unserer Nähe, das nur darauf wartet, uns aufzunehmen.
Wir müssen wieder aktives Subjekt werden in dem Satz »Der Mensch isst Lebensmittel« und unsere Erde mit Hingabe verwalten und lenken. Wir müssen uns selbst neu erziehen, um Koproduzenten zu werden.
Bis hierher habe ich begreiflich zu machen versucht, wer in dem Satz »Der Mensch isst Lebensmittel« das Subjekt ist – oder sein müsste – und welche Eigenschaften dieses Subjekt mitbringen müsste. Im nächsten Kapitel führen wir die Satzanalyse weiter und machen uns über das Prädikat des Satzes Gedanken. »Essen« ist ein Akt, der uns Freude schenkt, der aber auch immer öfter Angst hervorruft. Die Aufnahme von Nahrung wird in einigen Weltgegenden als selbstverständlicher Vorgang angesehen, in anderen geht es dabei ums nackte Überleben. Die Frage der Ernährung bedrängt uns wie nie zuvor, und dies nicht nur, weil die Lebensmittel knapp sind: Das Essen wurde zu einer der großen Paradoxien unserer Zeit.
[ 1 ] Wendell Berry, The Pleasures of Eating , in: ders., What are People for? , North Point Press, San Francisco 1990.
[ 2 ] Carlo Petrini, Gut, sauber & fair – Grundlagen einer neuen Gastronomie , Tre Torri, Wiesbaden 2007.
[ 3 ] Von den vielen Untersuchungen zur Konsumgesellschaft finde ich die Arbeit von Zygmunt Bauman sehr vollständig und gründlich. Er beschreibt in dem Buch Consuming Life (dt. Leben als Konsum, Hamburger Edition, Hamburg 2009) mit klarem Verstand und Weitblick die schädlichen Einflüsse, die der Konsumismus auf die Menschen ausübt, indem er zu unserer Verunsicherung beiträgt. Politische Apathie und der Anstieg der Kriminalität sind nur zwei der von Bauman herausgearbeiteten Folgen. Der Versuch, eine Parallele zur Welt der Lebensmittel, die im Zuge der Industrialisierung ebenfalls von den Regeln des Konsumismus umgewälzt wurde, zu ziehen, ist m. E. sehr nützlich. So versteht man, wie sich die Bedeutung des Begriffs Lebensmittel bis zu dem Punkt hin verändert hat, an dem sie zum aktiven – und nicht besonders wertvollen – Subjekt des Satzes wurden, von dem wir gerade sprechen.
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