Terra Madre
zu begegnen, sie ins Ghetto zu verbannen – zusammen mit den Reichen, die sich jeden Luxus leisten können (im Allgemeinen sind Luxusprodukte »Nischenprodukte«), den Oberflächlichen und den Desinteressierten.
Das ist der Preis, den Slow Food zahlen muss, weil die genannten Vorurteile die Vermittlung seiner Ideen und Initiativen behindern. Aber es gibt ein noch gravierenderes Problem. Die Ablehnung des Genusses – obwohl die Konsumgesellschaft paradoxerweise in Wirklichkeit nach Exzess strebt – wird zur Steilvorlage für das globale agro-industrielle System. Genuss abzulehnen heißt nämlich auch, die Fähigkeiten unserer Sinne zu negieren und damit auch unsere Fähigkeit, Zusammenhänge zu verstehen und bewusst zu wählen. Als Folge davon werden Erzeugung, Weiterverarbeitung und Verteilung unserer Lebensmittel an mächtige Dritte übertragen, ohne dass wir über die Konsequenzen gewisser Produktionsmethoden im Bild sind. Dies alles fördert wiederum die Standardisierung, die sich aus dem Versuch ergibt, zu industrialisieren, was von Natur aus nicht industrialisiert werden kann: die Landwirtschaft.
Die Auswirkungen dieses System sind paradox: Auf der einen Seite leidet eine Milliarde Menschen Hunger – und es werden täglich mehr. Auf der anderen Seite sind fast zwei Milliarden Menschen von Fettsucht und Diabetes betroffen, die sich pandemisch ausbreiten.
Wenn wir die damit verbundenen hohen Gesundheits- und Sozialkosten betrachten, bleibt von diesem Entwicklungsmodell nur sehr wenig Positives übrig. Und es gibt noch ein weiteres Paradox: Eine große Zahl armer Landwirte füllt mit ihrer naturnahen Wirtschaftsweise und ihren hochwertigen Produkten die Bäuche einiger weniger Privilegierter, während eine kleine Zahl bäuerlicher Millionäre im Namen der Industrie eine intensive, auf Monokulturen basierende Landwirtschaft minderer Qualität betreibt, um die Massen armer oder wenig begüterter Menschen dieser Welt zu ernähren. Dies alles ergibt angesichts der gegenwärtigen Krisen keinen Sinn mehr. Wir müssen neue Verhaltensweisen entwickeln und uns endgültig von dem Vorurteil befreien, Genuss ließe sich nur schlecht mit Engagement verbinden. Die zwei Werte passen nicht nur zusammen, sie führen vielmehr zu einer neuen, kreativeren Sichtweise.
Genuss ist demokratisch, muss demokratisch sein. Das Streben danach lässt uns, wenn es verantwortungsvoll geschieht, die Wirklichkeit mit neu geschärften Sinnen und wachem Verstand erleben. Genuss ist demokratisch, weil er unsere Lust weckt, wieder in der vordersten Reihe mitzukämpfen. Auch kleine Aktionen sind für die Verbesserung unserer Lebensqualität wichtig. Die Nahrungsaufnahme ist der denkbar unmittelbarste aller Genüsse und für alle erreichbar. Essen, und dies mit Genuss, kann ein hochbrisanter politischer Akt sein. Genuss ist nicht elitär. Er ist ein Recht und muss geschützt werden, indem man ihn fördert, erlebt und wirklich für alle zugänglich macht – damit wir die Lebensmittel essen und nicht sie uns.
Tradition und Innovation
Wenn wir mit gesundem Menschenverstand und ohne vorgefasste Meinungen über Nahrung nachdenken und das globale System der Agro-Lebensmittelindustrie irgendwie verbessern wollen, müssen wir unbedingt noch mit einem anderen Gemeinplatz aufräumen: der pauschalen Ablehnung der Vergangenheit und von allem, was nach Vergangenheit riecht. So wie die Wirtschaft der Lebensmittelbündnisse als marginal und der Genuss beim Essen als elitär gelten, so sind auch Tradition, altes Wissen und eine genügsame Lebensweise mit tief verwurzelten Vorurteilen behaftet und werden nicht selten als nostalgisch und realitätsfern abgestempelt. Damit werden Jahrhunderte volkstümlicher Kultur als überholt abgetan. Ein Großteil des ureigenen Wissens der Lebensmittelbündnisse – oder wenigstens dessen Ursprung – verliert somit jede Wertschätzung.
Es mutet paradox an, dass die meisten Menschen die höhere Qualität vieler traditioneller, handwerklich und lokal erzeugter, aus frischen, saisonalen Zutaten bestehender Produkte anerkennen – auch wenn sie deren Konsum für ein elitäres Vorrecht halten –, aber gleichzeitig den hohen Wert der Kulturen und Fähigkeiten, aus denen diese Erzeugnisse hervorgehen, nicht würdigen. Man meint sie zu hören: »Ja, diese Produkte sind besser, aber sie sind nicht von dieser Welt. Es gibt sie höchstens noch in kleinen Nischen, also kann man ruhig schlechtere Erzeugnisse essen.« Ich meine, wir
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