Terra Madre
sollten nicht so einfach verzichten, sondern nach gangbaren Alternativen fragen.
Wir sind überzeugt, dass die Lebensmittelbündnisse ihre Rolle als Vorkämpfer der dritten industriellen Revolution genau nach diesem traditionellen Wissen und diesen Kompetenzen ausrichten werden. Das ist nicht als Provokation zu verstehen, sondern zeugt vom Bewusstsein, dass die Welt saubere Energie, nachhaltige Produktion, Wiederverwertung und Recycling, ein Ende der Verschwendung, eine längere Lebensdauer der Waren und gesunde, frische, qualitativ hochwertige Lebensmittel fordert. Hier gehen die Lebensmittelbündnisse nicht nur bereits in die richtige Richtung, sondern sie bilden sogar die Spitze der Bewegung – dank ihrer Methoden und noch mehr dank ihrer Mentalität, auf der diese Methoden gründen.
Natürlich kann man ihre Arbeitsweise, die vielfach auf sehr begrenzten Technologien beruht, nicht einfach überall anwenden, auch wenn es in gewissen Fällen nicht unmöglich wäre. Sie ist an die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten angepasst und funktioniert dort ausgezeichnet. Hingegen ist es äußerst wichtig, ihren systemischen Charakter, das heißt die Harmonisierung innerhalb eines komplexen Systems, zu erforschen und die tieferen Beweggründe zu verstehen.
In Zukunft darf das traditionelle Volkswissen nicht mehr auf einer niedrigeren Stufe stehen als das Universitätswissen oder die von privaten Geldgebern finanzierte Forschung, denn es besitzt die gleiche Würde. Das Wissen und Können der Bauern entstammt einer jahrhundertealten Erfahrung. Ob man seinen praktischen Nutzen wissenschaftlich beweisen kann oder nicht, ist unwichtig. Ebenso falsch wäre allerdings auch, dem überlieferten Erfahrungsschatz, den ich als »langsames Wissen« bezeichne, den alleinigen Vorrang zu geben. Beide Wissensstränge müssen ohne Vorurteile miteinander in einen Dialog treten. Die Forschung muss sich ebenso in den Dienst des traditionellen Wissens stellen, wie sie mit der akademischen Wissenschaft auf Augenhöhe zusammenarbeiten muss.
Die Tradition wird irrtümlicherweise oft für unbeweglich und rückwärtsgewandt gehalten. Sogar wer sich auf sie beruft und sie in Ehren hält, begeht zuweilen den Fehler, sie als ein Phänomen zu betrachten, das an einem bestimmten Punkt stehen geblieben ist und sich nicht weiterentwickelt hat. Diese Sichtweise schneidet uns jedoch von unseren Wurzeln ab, sie raubt uns die Erinnerung an das, was wir waren, an die Geschichte unserer Völker.
Dessen sind sich die Lebensmittelbündnisse sehr bewusst. Für sie bedeutet Tradition keine monotone Wiederholung von Handlungen, Ritualen und Herstellungsprozessen. Sie sind offen für Neues und für alles, was sie auf der Spur der Tradition voranbringen kann. Die (manchmal missbrauchte) Aussage, die Tradition sei eine »gut gelungene Innovation«, ist wahr und wird von den Bündnissen in die Praxis umgesetzt. Sie geben das Alte nicht für Neues auf, vielmehr fügen sie das Neue in das komplexe System ein, aus dem ihre Identität gewachsen ist. Sie wissen, woher sie kommen, und sie haben ihre Ziele klar genug vor Augen.
Wir müssen uns nicht zwischen Tradition und Fortschritt, Vergangenheit und Zukunft entscheiden, aber wir sollten uns vor Verallgemeinerungen, Vereinfachungen und dem Auseinanderdriften dieser Begriffe hüten. Sie dürfen sich nicht unversöhnlich gegenüberstehen.
Die Lebensmittelbündnisse führen die Tradition fort und halten ihre Erinnerung hoch, gerade weil sie ihnen Identität gibt in einer Welt, die zur Gleichschaltung tendiert. Sie machen aber nicht den Fehler, von den Instrumenten, die ihnen dank Globalisierung und neuer Technologie zur Verfügung stehen, nicht ebenfalls Gebrauch zu machen. Sie nutzen sie lediglich auf eine verantwortungsvolle Weise, mit gesundem Menschenverstand.
Sie wollen essen und nicht gegessen werden.
Die wahre Nicht-Nachhaltigkeit: Mit Widersprüchen umgehen
Es gibt, wie gesagt, keine Ideologien oder vorgefertigte Modelle, die überall und in jeder Lage passen. Der gesunde Menschenverstand muss uns leiten, damit wir hinsichtlich Nachhaltigkeit und Demokratie auf Kurs bleiben.
Wir alle sind in gewisser Weise mitschuldig an den Krisen, die unseren Planeten getroffen haben. Unser Verhalten ist nie ganz tadellos, ob wir wollen oder nicht. Manchmal können wir uns dem System nicht völlig entziehen, wir sind gezwungen, es zu unterstützen und zu ertragen. In der sogenannten »entwickelten« Welt durchdringt die
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