Terra Madre
Konsumgesellschaft unser Leben so gründlich, dass niemand sich ganz von Schuld freisprechen kann. Wir sollten uns deswegen weder kasteien noch durch übertrieben große Opfer (was auch nur ein Exzess mit umgekehrten Vorzeichen ist) Buße tun. Wir können nur langsame, aber unbestreitbar positive Prozesse anstoßen. Das geht jedoch nicht ohne einen Mentalitätswechsel: Wir müssen unseren Geist öffnen für das Nicht-Exakte, das nicht gänzlich Erklärbare, für das Gute und Schöne. Vielleicht sollten wir etwas systemischer denken, ohne uns von Ängsten und Zweifeln verunsichern zu lassen, denn sie entspringen vor allem einem Entwicklungsmodell, welches das Unkontrollierbare kontrollieren und in Schubladen stecken möchte.
Wir sollten uns nicht vor Widersprüchlichkeiten fürchten, dafür umso mehr vor dem fehlenden Engagement, sie zu beseitigen. Sich nicht zu engagieren wäre alles andere als nachhaltig. Die in sich widersprüchliche Welt der industriellen Lebensmittelproduktion hält ihren Kritikern vor, sich zu widersprechen. Doch das sollte uns nicht beunruhigen. Jede menschliche Handlung, jede Denkweise, die sich im Geiste eines übergeordneten größeren Ganzen vollzieht, erscheint demjenigen widersprüchlich, der ständig alles in Schubladen steckt. Es gibt aber, wie wir bereits gesehen haben, auch Sachverhalte, die widersprüchlich erscheinen, aber nicht auseinanderdividiert werden können, sondern mit- und nebeneinander existieren. Man muss nur die Denkweise darüber auf eine andere Ebene bringen. »Im Allgemeinen misstraue ich Leuten, die ohne Widersprüche leben«, hat mir einmal ein Freund aus Spanien gesagt. Wie sollte man ihm nicht zustimmen? Wer die Vielzahl von Identitäten, die uns umgebende Vielfalt sieht, versteht, dass es praktisch unmöglich ist, sich nie zu widersprechen. Das ist nicht weiter schlimm. Konsequentes Handeln bedeutet etwas anderes: die klare Absicht, der Gesundheit der Erde nicht schaden zu wollen; die Möglichkeit einer Gemeinschaft, aus eigener Entscheidung heraus das zu essen, was ihre Mitglieder anbauen; die Garantie, dass Nahrung heute und in Zukunft die beste aller Formen von Friedensdiplomatie unter den Völkern bleibt – und außerdem die beste Quelle für Genuss und Glück. Es gibt zahllose Möglichkeiten, diese Ziele zu erreichen, mindestens so viele, wie es verschiedene Pflanzen- und Tierarten gibt, multipliziert mit den Methoden ihrer Zubereitung und Weiterverarbeitung, ihrerseits multipliziert mit den kulinarischen Traditionen. Daher gibt es auch unendlich viele – und zum Glück nicht kontrollierbare – Möglichkeiten, um die richtigen Lösungen für unsere Probleme und Krisen zu finden.
Wir müssen die Widersprüche überwinden und dürfen uns gleichzeitig nicht vor ihnen fürchten. Und wir müssen durch eine nachhaltige Lebensweise dem Verb »essen« seine volle Bedeutung zurückgeben.
Die Grundlagen einer neuen Gastronomie
Genuss an sich ist kein abnormes Verhalten. Was wirklich von der Norm abweicht, nicht nachhaltig ist, weil es nicht-nachhaltige Verhaltensweisen nach sich zieht, ist die Unfähigkeit, den Genuss vom Exzess – im positiven wie im negativen Sinn – zu trennen. Abzulehnen ist also der Exzess, nicht der Genuss an und für sich.
Der Exzess droht uns zu verwirren: Wir verlieren jedes Maß, wenn uns überbordende Fülle zur Verfügung steht (Exzess der Opulenz), oder schöpfen unser Potenzial nicht mehr aus, wenn wir Verzicht üben (Exzess der Entsagung). Genuss als solcher ist physiologisch, kann also nicht negiert werden, sondern muss im Gegenteil erprobt, anerkannt und erforscht werden. Man muss aber auch die eigenen Grenzen und Möglichkeiten erforschen und jede Form von Exzess meiden. Es geht dabei nicht so sehr um den »vernünftigen Mittelweg« als vielmehr um den gesunden Menschenverstand. Bartolomeo Sacchi [1] nannte es honesta voluptats (»ehrbare Lust«), in einer moderneren Definition würden wir von »maßvollem Genuss« sprechen.
Angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen und finanziellen Lage von Mäßigung zu reden, könnte naheliegend, ja selbstverständlich erscheinen. Aber maßvoller Genuss bedeutet nicht Verzicht um des Verzichts willen. Es geht hier weder um aufgezwungene Sittsamkeit noch um das klassische »Engerschnallen des Gürtels«. Wir möchten mahnende Worte unterlassen, weil sie allzu leicht zur Strafpredigt werden. Wir fordern das Recht auf Genuss mit der gleichen Verantwortung, die die
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