Terra Madre
als Mitgift eingebracht wurde: ihr Know-how, ihre Produkte, ihre Traditionen, ihre mit den Lebensmitteln verbundenen Bräuche, ihre Haltung und sogar ihre Denkweise. Die Gastronomie als Wissenschaft respektiert all dies aus Überzeugung und betrachtet es keineswegs als rückständig. Sie hat keine Vorurteile, sondern teilt die ganzheitliche Sichtweise der Lebensmittelbündnisse und ihr Verständnis von Ernährung und vom Leben, sowohl der Erzeuger als auch der Koproduzenten. Sie beseitigt die interdisziplinären Barrieren und verweigert sich den »verborgenen« Zusammenhängen auch dann nicht, wenn sie eben verborgen und nicht selten unergründlich bleiben.
Die neue Gastronomie fördert ihrerseits eine neue Landwirtschaft aus der Erkenntnis heraus, dass Nachhaltigkeit zwingend notwendig ist. Die neue Gastronomie steht für den maßvollen Genuss, der durch die vollständige Wahrnehmung der Wirklichkeit mit neu geschärften Sinnen sowie ein fundiertes Wissen über Lebensmittel erreicht wird, der weiß, was für den Einzelnen und für die Gemeinschaft das Beste ist. Mäßigung, Erforschung und Einforderung des Genusses gehen Hand in Hand, weil der Genuss eines der grundlegenden Elemente einer neuen Nachhaltigkeit, eines neuen Humanismus ist.
So gibt die neue Gastronomie dem Verb »essen« in unserer Satzanalyse seine wahre Bedeutung zurück.
[ 1 ] Der Platina genannte Humanist Bartolomeo Sacchi (Piadena bei Cremona 1421–Rom 1481) wurde vor allem durch sein kurzes Traktat zur Gastronomie De honesta voluptate et valetudine bekannt. Darin übersetzte er die Rezepte des Maestro Martino aus Como, des berühmtesten Kochs seiner Zeit, ins Lateinische. Platina befasste sich als Erster in der Geschichte mit Gastronomie, Diät, selbst mit dem Wert vor Ort erzeugter Lebensmittel und sogar mit dem Nutzen einer regelmäßigen körperlichen Aktivität. Seine Gedanken sind immer noch von erstaunlicher Aktualität. Inspirierend in seinem Traktat ist vor allem die Idee eines mäßigen Genusses, eines Verhaltens, bei dem Genuss nicht abgelehnt, sondern mit Maß und Verantwortung praktiziert wird.
[ 2 ] Wendell Berry verwendet den Begriff »local adaptation« in: Life is a Miracle: An Essay Against Modern Superstition, Berkeley, Counterpoint 2001.
[ 3 ] Jean-Anthelme Brillat-Savarin, Physiologie des Geschmacks oder physiologische Anleitung zum Studium der Tafelgenüsse, übersetzt von Carl Vogt, Braunschweig, 1865, S. 30.
Die Lebensmittel essen uns auf
Wert und Preis der Lebensmittel
Widmen wir uns nun dem Objekt in unserer Satzanalyse, den Lebensmitteln. Mit dem Siegeszug des Konsumismus setzte sich ein weiteres Vorurteil durch, nämlich dass Lebensmittel so billig wie möglich zu sein haben.
Natürlich wird man beim Einkaufen dem Produkt den Vorzug geben, das weniger kostet. Es sollte aber von gleicher Qualität sein wie das teurere Produkt – oder zumindest sollte so viel Auswahl zur Verfügung stehen, dass eine den eigenen Bedürfnissen entsprechende Qualität vorhanden ist.
Für Lebensmittel gilt das allerdings nicht mehr: Sie müssen billig sein und basta. Nur wenige Cent Preiserhöhung bei Gemüse oder Nudeln genügen, und schon werden die Zeitungen mit empörten Leserbriefen überschüttet. Wenn aber die Bank- oder Telefongebühren steigen, wenn ein Freiberufler seine Klienten im wahrsten Sinne des Wortes »rupft« oder wenn der Fernsehtechniker so viel kostet wie ein Abendessen für zwei im Restaurant, wird kaum protestiert.
Die Lebensmittel hingegen sind tabu, nach dem Motto: »Wir haben vor vielen Jahren unter Aufbietung großer Mühen den Hunger überwunden und sind in der Zwischenzeit eine wohlhabende Überflussgesellschaft geworden. Lebensmittel müssen heute überall verfügbar sein und möglichst wenig kosten. Sind sie teuer, überlassen wir sie den Schlemmern, die genug Geld zum Verschwenden haben.«
Das ist der Preis dafür, dass die Nahrung zu einem Konsumgut wurde, das all seiner materiellen, kulturellen und geistigen Werte beraubt ist. Das System, das um die Lebensmittel herum aufgebaut wurde oder in das man sie hineingebracht hat, ersetzt ihren Wert durch den Preis. Geld hat die anderen Werte verdrängt, ist zur allein selig machenden Kraft geworden.
Lebensmittel werden also nicht mehr erzeugt, um gegessen, sondern um verkauft zu werden, mit dem Preis als dem wichtigsten – wenn nicht einzigen – Kriterium.
Im globalen System der agro-industriellen Produktion sind die Lebensmittel zu einer Ware
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