Terra Madre
Lebensmittelbündnisse übernehmen, gemeinsam mit dem Bündnis, dem wir angehören. Genuss ist ein Geschenk der Natur und darf nicht im Gegensatz zu Engagement und ethischem Verhalten stehen. Nur so erkennt man seine Schönheit, nur so versteht man, dass Genuss, gerade weil er eine natürliche Gabe ist, mit der Natur in Einklang stehen muss. Denn jede und jeder sollte das Recht auf Genuss haben, in der Gegenwart wie in der Zukunft.
Mäßigung heißt, nichts zu vergeuden, also beispielsweise erneuerbare Energien so weit wie möglich zu nutzen oder den Wissensschatz, den uns alle früheren Generationen überall auf der Welt überliefert haben, zu achten, um für schwierige Zeiten gewappnet zu sein. Die Entsagung aus Armut kann in ein Moment der Geselligkeit umgewandelt werden, indem man etwa ein neues, wohlschmeckendes Rezept erfindet oder im Überfluss Vorhandenes zum Anlass nimmt, mit anderen zu teilen und zu feiern. Mäßigung ist häufig gleichbedeutend mit Einfachheit und geht Hand in Hand mit dem bereits mehrfach angeführten gesunden Menschenverstand. Zu dieser Lebensweise, die einem erlaubt, im eigenen Umfeld zu handeln, das Nutzbare zu nutzen, ohne es aufs Spiel zu setzen, bekennen sich die Lebensmittelbündnisse. Der Gewinn, den man daraus zieht, ist ein erfüllteres Leben, dessen eigener Herr man ist.
Ich möchte hier nicht einer Idylle oder einem utopischen Traum das Wort reden. Ich bin mir im Klaren darüber, weitere Kritik auf mich zu ziehen und möchte festhalten, dass ich die real vorhandenen Schwierigkeiten keineswegs ausblende. Das Leben in bäuerlichen Gesellschaften war nie einfach. Die Härten des Alltags waren oft schrecklich – und sind es in vielen Teilen der Welt noch immer. Wir wollen aus dieser Kultur jene Elemente, die auch heute noch als innovativ und positiv gelten können, aufnehmen. Sie haben zwar mit unserer Lebenserfahrung als homo consumens sehr wenig zu tun, doch sie können uns hinführen zu einem Dasein als Koproduzenten, zum Respekt gegenüber bestimmten menschlichen Werten und gegenüber der Erde: Gemeinschaftssinn, Geist der Anpassung an den jeweiligen Ort [2] , Beachtung des Rhythmus der Jahreszeiten und eine umfassendere Kenntnis der Lebensmittel.
Darauf basiert die neue Gastronomie, die ich propagiere und die einen radikalen Wandel des kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Ansatzes in Bezug auf Lebensmittel darstellt. Die neue Gastronomie ist nicht nur eine Wissenschaft, sondern verkörpert auch eine Haltung. Die Definition, die Jean-Anthelme Brillat-Savarin 1826 in seiner »Physiologie des Geschmacks« formuliert hat, bringt es auf den Punkt: »Die Gastronomie ist die wissenschaftliche Kenntnis alles dessen, was zum Menschen, insoweit derselbe sich ernährt, in Beziehung steht.« Gemäß Brillat-Savarin sind an der komplexen gastronomischen Wissenschaft viele Disziplinen beteiligt: Naturgeschichte, Physik, Kochkunst, Handel und politische Ökonomie. Auch wären, so Brillat-Savarin weiter, die Akteure der gastronomischen Wissenschaft nicht nur die Gastgeber oder Wirte, sondern ebenso »alle Ackerbauern, Weinbauern, Fischer, Jäger sowie die zahlreichen Köche …, welches auch das Amt oder der Stand sei, unter welchem sie ihre Beziehung zu der Bereitung der Nahrungsmittel verbergen.« [3]
Folglich muss Gastronomie heute, im Licht der offensichtlichen und raschen Veränderungen unserer postmodernen Gesellschaft, neu definiert werden – als komplexe und fachübergreifende Wissenschaft, die alles, was mit Lebensmitteln zu tun hat, erforscht. Zu den von Brillat-Savarin genannten Disziplinen gesellen sich Anthropologie, Genetik, Viehzucht, Agronomie, Soziologie, Medizin, Geschichte und Ökologie.
Die Lebensmittel müssen in der ganzen Breite ihrer Anwendungsmöglichkeiten untersucht werden: als kulturelles Element, als Rohstoff, als Tauschobjekt, als handwerkliches oder industrielles Erzeugnis, als Zutat beim Kochen, als Bestandteil einer Mahlzeit.
Die Gastronomie ist demnach eine interdisziplinäre Wissenschaft. Sie umfasst und vereint sämtliches Wissen über Lebensmittel sowohl in ihrer materiellen Form – vom Anbau oder der Züchtung bis zum Verbrauch –, als auch als kulturelles Element, das nach traditionellen Methoden (oder auch nicht) verarbeitet wird, das fair oder nicht fair gehandelt wird, über das mehr oder weniger wissenschaftlich gesprochen wird, das ausgewählt wird.
Dieser Ansatz berücksichtigt natürlich alles, was von den Lebensmittelbündnissen
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