Terra Madre
einzufordern, die eigentlich selbstverständlich sein müssten.
Nehmen wir etwa den Begriff »biologisch«. Im Grunde ist er bereits ein Widerspruch in sich. Das Natürliche, das, was ohne Zusätze auf fruchtbaren und unbelasteten Böden wächst, also das, was die Regel sein müsste, da die Natur so funktioniert, wird zertifiziert und mit einem Etikett versehen, weil es absurderweise zur Ausnahme geworden ist. Der ganze Rest, der geschädigt ist durch alle möglichen künstlichen Mittel und Eingriffe in den natürlichen Kreislauf, gilt als »normal«.
Im Kampf um die Ernährungssouveränität muss man dieses grundlegende Menschenrecht als wirksames Mittel einsetzen, um das große Wissen der Lebensmittelbündnisse aufzuwerten und weiterzuverbreiten. Unter dieser Flagge versammeln sich all die Rechte, die Arbeitsweisen, die Techniken und der kulturelle Hintergrund, aus denen sich eine umfassende, übergreifende Gastronomie in all ihrer Vielfalt zusammensetzt. Diese Gesamtheit an Kenntnissen ist die Basis für ein Modell, das der Nahrung eine neue Zukunft eröffnet: eine echte zivilisatorische Rückeroberung hin zu einem neuen Humanismus, der sich nur langsam und unter Berücksichtigung der verschiedensten Aspekte entwickeln wird.
Souverän in der Produktion
Um die Ernährungssouveränität zu verwirklichen, muss jedem Volk das Recht auf eine gesunde, ausreichende und allen zugängliche Lebensmittelproduktion zugestanden werden. Heute hat die Zahl der Hungernden und Unterernährten in der Welt die Milliardengrenze überschritten – mit anderen Worten, sie umfasst 15 Prozent der Weltbevölkerung. Die Gesamtproduktion an Lebensmitteln reicht aus, um alle Bewohner der Erde satt zu machen. Es geht heute darum, allen den Zugang dazu möglich zu machen.
In den vorangegangenen Kapiteln wurden viele der negativen Prozesse untersucht, die uns in die gegenwärtige Lage gebracht haben. Nun will ich die Prinzipien darstellen, die eine Ernährungssouveränität sicherstellen können. Statt auf höchster Ebene in das System einzugreifen und dem Moloch des Marktes entgegenzutreten, genügt es meiner Meinung nach, auf lokaler Ebene zu handeln, also bei den einzelnen Aspekten des Problems anzusetzen. Dort, wo es möglich ist, müssen die indirekten Auswirkungen eines globalen, einseitigen und undemokratischen Systems korrigiert werden. Nur von unten, durch Initiative (und auf der gemeinschaftlichen Basis) der Bündnisse und der Bevölkerung, mit neuen Methoden und gleichzeitig dem Rückgriff auf traditionelle Erzeugnisse, gelingt eine Lebensmittelproduktion, die gesund, ausreichend und für alle Menschen zugänglich ist.
Leider ist das in vielen Teilen der Welt heute anders. Während man im reichen Westen glaubte, auf die Bauern verzichten zu können, zerstörte die »aufgezwungene« humanitäre Hilfe für die armen Länder die Märkte und die Landwirtschaft vor Ort. Hinzu kommt der Siegeszug der Monokulturen und der Großprojekte der internationalen Institutionen, die zwar unter dem Anspruch antraten, Entwicklung zu ermöglichen, stattdessen aber ganze landwirtschaftliche Lebensmittelsysteme verwüsteten, mit denen die Menschen bis dahin zumindest ihr Überleben hatten sichern können.
Die Lebensmittelbündnisse müssen wieder aus eigener Kraft entscheiden können, was und wie sie erzeugen, wie sie den Vertrieb organisieren und wie sie die Endabnehmer ihrer Erzeugnisse, die Koproduzenten, mit einbeziehen. Nur so können wir die riesige Maschinerie aufhalten, die uns aufisst – und mit uns die ganze Erde.
Souverän in der Nachhaltigkeit
Wer im Sinne der Ernährungssouveränität handelt, muss die ökologische Integrität der Orte, an denen er produziert, respektieren. Den Lebensmittelbündnissen liegt diese Integrität am Herzen, weil sie der wichtigste Garant für ihr Überleben ist. Sie setzen ihre Ressourcen nicht aufs Spiel, sondern versuchen, sie auf die bestmögliche Weise zu nutzen.
Ständige Produktionssteigerungen durch den Einsatz chemischer Düngemittel und Pestizide führen dagegen zu riesigen Monokulturen und Tiermastbetrieben, die die Fruchtbarkeit der Böden und die Biodiversität auf viele Jahrzehnte hinaus gefährden und einen Großteil der heimischen Bevölkerung verdrängen.
Die Verwüstung der Böden und des Grundwassers, die Privatisierung der Ressourcen, die eigentlich der Allgemeinheit gehören sollten – etwa Quellen und Wasserleitungen [2] –, sowie die Ausbeutung und Verschmutzung der Meere
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