Terra Madre
Riedt, dtv, München, 1985, S. 133 ff.
[ 4 ] United Nations General Assembly (10. Jan. 2008), Promotion and protection of all human rights, civil, political, economic, social and cultural rights, including the right to development. Report of the Special Rapporteur on the right to food, Jean Ziegler; A/HRC/7/5.
Ernährungssouveränität
Wer ist der Souverän?
In einer Welt, in der der Mensch von den Lebensmitteln gegessen wird, üben diese auch die Macht aus: industrielle, standardisierte, weltweit in Massenproduktion erzeugte, wenig natürliche und nicht nachhaltige Lebensmittel. Sie hinterlassen auf der Erde eine Spur der Verschmutzung, von den Feldern bis in unsere Mägen. Krisen und Verunsicherung sind die Folge. Diese Lebensmittel führen das Kommando, sie herrschen im Namen ihrer »Urheber«: der Lebensmittelindustrie, der multinationalen Konzerne des Agro-Business und der Großverteiler, die ohne Rücksicht auf die Interessen der Bauern und Koproduzenten die Preise diktieren.
Um der Aussage »die Lebensmittel essen« ihre aktive Form zurückzugeben, brauchen wir eine Übereinkunft zwischen denen, die unsere Nahrung anbauen, und denen, die sie essen, also zwischen all jenen Menschen, die die Nahrung in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen oder stellen wollen und die den Lebensmitteln die Bedeutung und die Wertschätzung geben möchten, die sie verdienen.
Alle, die unmittelbar mit der Erzeugung von Lebensmitteln zu tun haben, müssen ihre Souveränität zurückgewinnen. Sie müssen wieder selbst entscheiden können, was sie auf ihren Feldern säen, welche Tiere sie in ihren Ställen und auf ihren Weiden halten, welche landwirtschaftlichen Techniken sie anwenden. Ihre kulturellen Traditionen und ihr Umfeld müssen respektiert werden.
Die Lebensmittelproduktion muss sich in den Dienst einer lebendigen Gastronomie stellen, in der sich die Geschichte und die kulinarischen Gewohnheiten eines Volkes widerspiegeln. Die natürlichen Kreisläufe der Erde und ihre Fähigkeit, sich zu regenerieren, müssen respektiert werden.
Das ist es, was ich unter Souveränität in Bezug auf die Nahrungsmittel, unter Ernährungssouveränität verstehe. Dieses Prinzip, dieses Recht muss wieder neu erobert werden, es ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass wir wieder essen und nicht mehr gegessen werden.
Eine kulturelle (Rück-)Eroberung
Die Ernährungssouveränität ist ein »grundlegendes Prinzip auf nationaler, regionaler und gemeinschaftlicher Ebene. Alle lokalen, regionalen und nationalen Institutionen und Gemeinschaften haben auf allen Ebenen das Grundrecht und gleichzeitig die fundamentale Pflicht, sämtliche notwendigen Bedingungen zu schützen, zu bewahren und zu unterstützen, um eine ausreichende, gesunde und für jeden zugängliche Lebensmittelproduktion zu fördern. Diese Produktion muss die Erde, das Wasser und die ökologische Integrität des Herkunftsgebiets, in der sie stattfindet, bewahren und die Grundlagen für den Lebensunterhalt der Produzenten respektieren und stärken. Kein internationales Gremium und kein multinationales Unternehmen hat das Recht, diese Prioritäten zu verändern. Und niemals, aus keinem Anlass, darf eine internationale Organisation fordern, dass eine Nation gegen ihren Willen Einfuhren zulassen muss.« [1]
Es ist ein Paradox unserer Zeit, dass diesem Prinzip, diesem eindeutigen Recht überhaupt erst wieder zum Durchbruch verholfen werden muss. Ständige Appelle sind nötig, es den Völkern zuzugestehen. Dabei wäre es im Grunde die normalste Sache der Welt: Ich habe ein Feld, darauf baue ich das an, was dort am besten wächst, also die heimischen Kulturen, und das tue ich in erster Linie für mich und meine Familie; was ich darüber hinaus erzeuge, kann ich verkaufen, weil es in meiner unmittelbaren Nähe oder in der Umgebung Menschen gibt, die meine Arbeit und meine Sorgfalt bei der Lebensmittelproduktion wertschätzen und mich gerecht bezahlen.
Doch wenn man unsere besondere Satzanalyse auch auf diesen langen Satz anwendet, stellt sich heraus, dass diese einfachen Aussagen gar nicht so selbstverständlich sind. Verben wie anbauen, verkaufen, schätzen, bezahlen sind allesamt zu Fallen geworden – für jene, die produzieren ebenso wie für jene, die essen. Denn auf dem Weg, den die Lebensmittel vom Feld zum Tisch zurücklegen, lauern die Zwischenhändler. Sie verdrehen die Bedeutung dieser Verben, deuten sie im Namen ihres Profits um und zwingen uns damit, Dinge
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