Terra Madre
die drittgrößte Genmaterial-Bank der Welt. Diese verdienstvolle Institution sammelt seit mehr als zwei Jahrhunderten Pflanzenarten aus den verschiedensten Orten Russlands. Das Institut erlangte durch einige seiner Wissenschaftler am Sankt Petersburger Sitz traurige Berühmtheit: Während der Belagerung der Stadt durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zogen sie es vor zu verhungern, um die wertvollen Reserven an Getreide und Kartoffeln nicht angreifen zu müssen. 1985 löste das Institut Vavilov gravierende Probleme in Äthiopien und im Jahr 2000 in Georgien, indem es jeweils Pflanzenvarietäten lieferte, die vor Ort verloren gegangen waren.
Der Schutz der Biodiversität ist wichtig, um das Überleben der natürlichen Systeme zu sichern. Aber auch unser »menschliches System« braucht die Vielfalt – biologisch, intellektuell, kulturell, sozial und auch wirtschaftlich –, um sich entfalten zu können. Selbst ein so komplexes System wie die Natur wird stark geschwächt, ja, kann sogar sterben, wenn es seine Vielfalt verliert. Das gleiche Schicksal würde die Menschheit ereilen, hätten wir alle dieselben Gewohnheiten, dieselbe Art zu produzieren, zu kommunizieren, zu lernen, anzubauen, zu essen oder miteinander in Beziehung zu treten. Wir sind nicht zufällig ein wesentlicher Teil der Natur und besitzen das gleiche Recht wie alle anderen Lebewesen, auf der Welt zu sein. Wir funktionieren genau so wie jeder andere lebende Organismus auf der Erde, was leider allzu oft vergessen wird. Blind zu glauben, dass unsere künstlichen Denkmodelle alle Probleme lösen könnten, ist gefährlich. Manchmal sollten wir unser Augenmerk auf das richten, was wir noch nicht vollständig verstehen, auf das, was sich uns entzieht, aber besser funktioniert als alles, was wir jemals erfinden könnten: Mutter Natur.
Durch sie erfahren wir, dass Vielfalt wichtig ist und bewahrt werden muss, weil sie die größte vitale Kraft ist. Wenn wir uns deswegen unsicher fühlen, sollten wir uns nicht davor verschließen, sondern im Gegenteil mit der größtmöglichen Offenheit reagieren, mit einer Menschlichkeit, die allen die gleiche Würde zugesteht.
Das Geheimnis liegt also in der Bewahrung der lokalen Biodiversität und Identität, die beide nur dank der Verschiedenartigkeit der Welt wachsen können. Jede dieser Unterschiedlichkeiten repräsentiert einen kleinen Ausschnitt, der nur im Zusammenwirken mit allen anderen zum Tragen kommt. Ohne lokale Biodiversität und Identität kann Ernährungssouveränität nicht verwirklicht werden.
Freiwilliger und freier Handel
Wenn die Preise für die wichtigsten Lebensmittel von den Weltmärkten der Gebrauchsgegenstände festgelegt werden, können die Bauern Produktion und Handel nicht mehr frei gestalten. In der ganzen westlichen Welt bestimmen die Großverteiler nicht nur die Qualität der Lebensmittel, die sie für den Verkauf akzeptieren, sie legen auch die Preise fest, die für die Bauern fast nie gerecht sind.
Ernährungssouveränität bedeutet, dass sowohl Verkäufer als auch Käufer die Macht haben müssen, ihre Bedingungen vorzugeben und eine Einigung zu erzielen, ohne dass Dritte sich einmischen und ihnen Auflagen aufzwingen. Der Handel innerhalb der Bündnisse und zwischen den Bündnissen muss daher gefördert werden und sollte mit einem Minimum an Zwischenhandel auskommen.
Die Initiative des Handelns darf nicht von oben diktiert werden, sondern muss auf einer fairen, nachhaltigen und für alle Seiten vorteilhaften Grundlage beruhen, für die Erzeuger ebenso wie für die Koproduzenten der Bündnisse. Beide müssen freie Vereinbarungen nach ihren eigenen Vorstellungen und Kriterien abschließen können, die vom Tausch (und sogar von der Unentgeltlichkeit, vom Geschenk) bis hin zu Banktransaktionen reichen können. Allein die beteiligten Parteien sollten die kommerziellen Möglichkeiten beurteilen und dabei stets ihre eigenen Vorteile im Auge behalten. Kein internationales Gremium hat das Recht, irgendein Land oder ein Bündnis zu zwingen, Investitionen oder Handelsaktivitäten über seine Grenzen hinaus zu gestatten, wenn es die lokalen Interessen schädigt.
Der Verkauf über Zwischenhändler ist zwar nicht das größte aller Übel, aber es dürfte doch schwierig sein – außer beim fairen und solidarischen Handel –, einen Händler zu finden, der nicht nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Nach der Definition von Jean-Anthelme Brillat-Savarin ist der Handel »die Suche
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