Terra Madre
»wissenschaftlichere« Ansätze propagierte, wurde die Forschungsarbeit zum Vorrecht der öffentlichen Hand und ging in die Verantwortung der Regierungen über. Die beträchtlichen privaten Investitionen vor allem auf dem Gebiet der Hybridisierung von Mais ab den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts führten dann zur Patentierung dieser Entdeckungen mit dem Ziel, ihre kommerzielle Nutzung zu schützen. Mit der Entwicklung der Gentechnik seit den 1980er-Jahren wurde die Patentierung von Saatgut zur allgemeinen Praxis und brachte so abartige technologische »Errungenschaften« wie den Samen »Terminator« hervor, der unfähig ist, sich zu reproduzieren und daher nur eine Ernte erlaubt. Damit soll verhindert werden, dass die Bauern ihr Saatgut Jahr für Jahr selbst neu gewinnen können.
Genetisch veränderte Organismen (GVO) sind das Produkt dieses kommerziellen Systems: Sie sind patentiert, gehören also dem, der sie entwickelt hat. Mit dieser Eigenschaft können sie mit den Prinzipien der Ernährungssouveränität keinesfalls vereinbar sein.
Samen war immer ein Allgemeingut. Ihn in eine Ware umzuwandeln, verändert die Landwirtschaft und die Natur des Samens selbst in entscheidender Weise. Man stiehlt den Bauern ihr ureigenes natürliches Instrument zum Überleben und macht eine Technologie daraus, die Armut und Unterentwicklung schafft und viele Bauern ihres Lebensunterhalts beraubt. Nur wenn das Saatgut von den Patenten befreit wird, kann die Ernährungssouveränität auf der Welt zurückerobert werden. Wir brauchen eine Forschung, an der auch die Bauern beteiligt sind, eine Forschung, die von öffentlichen Einrichtungen finanziert wird, ganzheitlich ausgelegt ist und auf den Feldern der Lebensmittelbündnisse stattfindet.
Die GVO sind nur die jüngste, die heimtückischste Technologie, die private Firmen ins Spiel gebracht haben, um die Kontrolle über die Landwirtschaft zu gewinnen. Weil bestimmte Phänomene über einen langen Zeitraum hinweg beobachtet werden müssen, sind wir bisher nicht in der Lage, ihre tatsächlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit, auf die Biodiversität oder das ökologische Gleichgewicht einzuschätzen. Um diese Technologie abzulehnen, genügt es allerdings, daran zu erinnern, dass sie für Monokulturen entwickelt wurde und dafür, sich die Rechte auf das Saatgut für unsere Lebensmittel zu sichern, um das agro-industrielle System zu stützen und ihm neue Nahrung zu geben.
GVO sind nicht die einzige Technologie, die das Agro-Business einsetzt, um weitere Märkte zu erobern und sie in den Händen einiger weniger zu konzentrieren. Viele dieser Strategien und »Neuerungen« – vom DDT bis zu synthetischen Düngemitteln – zeigten in dieselbe Richtung. Viele haben sich bereits als absolut nicht-nachhaltig und sogar als sehr schädlich für die menschliche Gesundheit und die Ökosysteme erwiesen.
Um allen Völkern Ernährungssouveränität zu garantieren, muss daher immer das Prinzip der Achtsamkeit gelten. In der Lebensmittelproduktion darf eine neue Technologie nicht zugelassen werden, wenn sich nicht nachweisen lässt, dass sie mit lokalen Sicherheitsregeln konform geht, einen Nährwert besitzt, gesund und nachhaltig ist.
Selbstbestimmung
Beim Prinzip der Ernährungssouveränität handelt es sich weder um einen rein politischen Anspruch – wobei es das auch ist – noch um ein simples Programm für eine weltumspannende Lebensmittelpolitik, das übergeordneten Institutionen unterbreitet werden soll (auch wenn, wie bereits gesagt, eine solche Institution bald geschaffen werden sollte). Es ist auch keine utopische Forderung von Seiten der indigenen Gemeinschaften oder anderer als »rückständig« betrachteter Gruppen, die ihre Freiheit, in völliger Autonomie Landwirtschaft auf ihre Weise zu treiben, bedroht sehen.
Die Ernährungssouveränität geht heute alle Menschen an. Jeder Bewohner der Erde muss beim Einkaufen sein Recht auf Ernährungssouveränität ausüben können. Er muss frei wählen können, bei wem er einkaufen möchte, und ein Angebot vorfinden, das allen Kriterien der Ernährungssouveränität entspricht. Die Regeln, die festlegen, wie die Lebensmittel auf unseren Tisch gelangen, müssen diese Kriterien respektieren.
Trotzdem sind wir nicht wirklich frei. Es genügt nicht, nachhaltig erzeugte Lebensmittel einkaufen zu können, die unsere Identität und jene der Gemeinschaft, in der wir leben, respektieren und die uns und ihre Produzenten
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