Terra Madre
zufriedenstellen. Lebensmittel berühren verschiedene Bereiche unserer Existenz, deshalb muss das Konzept der Ernährungssouveränität die zentrale Stellung einnehmen, die ihm bisher verwehrt wurde. Nur so können wir selbst bestimmen, wer wir sind und wie wir uns verhalten sollen, um auf unserer Erde in Würde und glücklich zu leben.
Souveränität über das Wissen
Die Identität eines Volkes gründet zu einem guten Teil auf den Ernährungsgewohnheiten seiner Bürger. Wir haben bereits gesehen, wie eng das Lebensmittelsystem eines Bündnisses mit der Biodiversität und den Bedingungen an einem Ort, an die sich das Bündnis selbst angepasst hat, verbunden ist (und das gilt für alle Gemeinschaften, nicht nur für die typisch landwirtschaftlichen Lebensmittelbündnisse oder die Bewohner ländlicher Gebiete). Es ist ein so komplexes System, dass es für immer Schaden nimmt, wenn auch nur eines seiner Elemente wegfällt. Das heißt nicht, dass ein System sich nicht verändern kann, aber wie in der Natur können äußere Einflüsse seine ganze Existenz in Frage stellen und den Evolutionsprozess unterbrechen. Hier soll aber nicht die Unbeweglichkeit der Systeme im Vordergrund stehen, sondern ganz im Gegenteil ihre Fähigkeit, sich nachhaltig zu entwickeln.
Das gesamte Wissen, das sich eine Gemeinschaft angeeignet hat, seit sie in ihrem Gebiet lebt und arbeitet, garantiert das Funktionieren des integralen Systems aus Natur, landwirtschaftlicher Produktion, Arbeitsmethoden und Esskultur, sozialem Leben und Landschaft. Dieses Wissen umfasst althergebrachtes und überliefertes Wissen, aber auch moderne oder sogar postmoderne Kenntnisse, etwa alternative Vertriebskanäle wie das Internet, wo die Bauern den Verbrauchern saisonale Lebensmittel direkt anbieten können. Heute ist das überaus zerbrechliche Gleichgewicht dieses Systems bedroht. Viele Bündnisse haben nicht die Mittel, um dem Druck standzuhalten, der durch Standardisierung, Verschwendung, Massenproduktion und Wegwerfmentalität ausgeübt wird, durch all die Verlockungen, denen niemand widerstehen kann, auch wenn sie einem letztlich keine Befriedigung bringen.
Das kostbare Wissen zu bewahren ist sowohl ein Recht als auch eine Verpflichtung – für die Lebensmittelbündnisse, für die einheimische Bevölkerung, für das ganze Land. Dieses Wissen trägt zur Rettung der Biodiversität bei und hilft mit, die überlieferten Kenntnisse über die Lebensmittel und die Erhaltung der gemeinschaftlichen Güter, die für die Mitglieder aller Bündnisse ohne Einschränkung frei zugänglich sein müssen, zu bewahren.
Die Kolonisierung, die ganze Völker unterjocht und sie im Namen einer kulturell eingeschränkten, eurozentrischen Sicht ihrer Traditionen und der wichtigsten Ressourcen für den Export beraubt hat, wird heute allgemein selbstkritisch betrachtet. In vielen Teilen der Welt agiert die industrielle Landwirtschaft allerdings auch heute mehr oder weniger nach demselben Muster; vielleicht nicht immer mit demselben Einsatz von Gewalt, sondern mit subtileren Methoden, was aber das Ganze nicht akzeptabler macht.
Der Schutz des Wissens von Bündnissen wie jenen von Terra Madre ist der Schlüssel, um überall auf der Welt die nachhaltige Landwirtschaft zu erhalten und sie dort wieder einzuführen, wo sie nicht mehr existiert. Keine internationale Übereinkunft zu Handel oder Eigentumsrechten darf verlangen, dass die lokalen Gemeinschaften sich irgendeinem Zwang unterwerfen. Keine globalen Handelsregeln und kein multinationaler Konzern darf den Bauern und den lokalen Lebensmittelbündnissen das Recht auf ihr eigenes Saatgut, auf ihre eigenen Techniken und Technologien, auf ihren eigenen Rhythmus, auf Innovation und gemeinschaftliches Wissen absprechen. Gegen jede Form von »Biopiraterie«, das heißt Diebstahl von lokalem Wissen und genetischer Vielfalt zu kommerziellen Zwecken, muss mit aller Härte vorgegangen werden.
Wird das lokale Wissen – das alte wie das neue – bewahrt, können die Bündnisse Herr ihrer eigenen Existenz sein, die Ziele von Forschung und Entwicklung selbst bestimmen und die eigenen Modelle unabhängig und frei nutzen.
Wirtschaftliche Souveränität
Wer die Ernährungssouveränität besitzt, herrscht über das Wissen. Er herrscht aber auch über die Wirtschaft. Er hat die Freiheit, sowohl im Rahmen der Gemeinschaft wie auch auf nationaler Ebene zu entscheiden, welche Art von wirtschaftlicher Aktivität er ausüben, wie er Handel betreiben,
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