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Terra Mater

Terra Mater

Titel: Terra Mater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Bordage
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»Quarantäner« und nicht aus dem Vulgärlateinisch-französischen »Anzahl von vierzig Tagen«, das sich auf die ersten vierzig Tage der atomaren Katastrophe auf Ut-Gen bezieht, wie einige Kollegen behaupten. Lange unterdrückte Tränen trübten Jeks Sicht. Deshalb bewegte er sich jetzt tastend durch den engen, nur noch schwach beleuchteten Gang. Vor ihm und hinter ihm bewegten sich graue Gestalten ebenso zögernd. Manchmal konnte er verzweifelte Schreie oder ersticktes Wimmern hören. Das waren die verbliebenen Geräusche in der Grabesstille des Bauchs von Ut-Gen.

     
    D as Vergasen und Zuschütten des Nord-Terrariums war so schnell geschehen, dass nur wenige Quarantäner den Evakuierungsschacht hatten erreichen können – ein paar Hundert von mehreren Millionen. Die im Umkreis des Kardinals Fracist Bogh eingeschleusten quarantänischen Agenten hatten sich täuschen lassen wie kleine Kinder. Verräter hatten die Alarmsirenen außer Betrieb gesetzt, deshalb hatten nur die auf den tiefer liegenden Ebenen lebenden Familien von der Gefahr benachrichtigt werden können.
    Der alte Artrarak hatte Jek seine Sauerstoffmaske aufgesetzt und mit letzter Kraft seinen kleinen Freund zu der runden Öffnung des Fluchtstollens in seiner Grotte gezerrt.
    »Vergiss nicht, die Stadt Glatin-Bat«, hatte er bleich und erschöpft gemurmelt. »Das Raumschiff des Dogen Papironda … der Sternhaufen Neorop … der Planet Franzia … Terra Mater … Du musst leben, Jek, und ein Krieger der Stille werden … Für mich ist es zu spät … Beeil dich! Die Kreuzler gießen flüssigen Beton … in das Terrarium …«
    Voller Entsetzen hatte Jek gesehen, wie sich auf dem hässlichen Gesicht Artraraks eine tödliche Blässe ausbreitete, während sich der alte Mann vor Schmerzen auf dem Boden wand, bis seine Bewegungen immer schwächer wurden und er starb. Zeit zu weinen blieb dem kleinen Jungen nicht. Sofort wurde er von in Panik geratenen Quarantänern mitgerissen, die in den Evakuierungsschacht drängten.
Alle, die keine Gasmaske hatten, erstickten, wurden wie von einer unsichtbaren Sense getroffen, dahingerafft. Und schon drang flüssiger Beton – eine schwarze, schmierige, stinkende Masse, die sonst dazu benutzt wurde, Vulkankrater zu verschließen – in die unterirdischen Gänge ein und verschlang alle, die nicht schnell genug fliehen konnten. Mit seinen schwarzen Krakenarmen bedeckte die in Sekundenschnelle härtende Masse alles Leben.
    Jek warf einen letzten Blick auf den toten Artrarak und lief mit den anderen Flüchtenden durch den schmalen, schlecht beleuchteten Gang, in dem es immer dunkler wurde. Er hatte keine Ahnung, wie lang der Evakuierungsschacht war. Wie lange würde er in diesem Trauerzug mitmarschieren müssen?
    Durch das Einatmen zu viel Sauerstoffs geriet er in eine Art Euphorie, die jedoch manchmal blitzartig von der Erkenntnis einer schmerzlichen Realität getrübt wurde. Dann dachte er an seine Eltern, die wahrscheinlich jetzt in ihrem halb eingegrabenen Haus in Oth-Anjor den tiefen Schlaf der Gerechten schliefen. Wie würden sie reagieren, wenn sie entdeckten, dass ihr Sohn nicht in seinem Zimmer war? Würden sie verzweifelt sein, oder würden sie ihn aus ihrer Erinnerung wie einen bösen Traum verbannen?
    Doch wahrscheinlich sind sie erleichtert, dass ich nicht mehr da bin, dachte er. Wollten sie mich nicht auf diese weit entfernte Schule der heiligen Propanda schicken?
    Und trotzdem hatte Jek in diesem dunklen und kalten Untergrund des Planeten Ut-Gen, inmitten dieser missgestalteten und von Gott und den Menschen verlassenen Kreaturen ein heftiges Bedürfnis, seine Eltern zu umarmen, ihnen zärtliche Worte zuzuflüstern und sich in ihrer warmen Nähe geborgen zu fühlen, auch wenn sie ihn oft ausgeschimpft
und bestraft hatten. Je weiter er sich von ihnen entfernte, umso mehr entschuldigte er ihr Verhalten. Er erfand sie neu und stattete sie mit allen möglichen Tugenden aus. So wurden sie wie Naïa Phykit, Sri Lumpa und der Mahdi Shari zu legendären Gestalten. Und Jek weinte.
    Dann dachte er an Artrarak, der sein Leben für ihn gegeben hatte. Und er hörte die Stimme des alten Quarantäners: »Du musst leben. Jek, und ein Krieger der Stille werden …« Denn allein diese melodiöse ernste Stimme hatte Jek At-Skin davon überzeugt, das Abenteuer zu wagen. Deshalb hatte er jetzt nicht mehr das Recht, von diesem einmal eingeschlagenen Weg abzuweichen. Das war er Artrarak schuldig. Der Quarantäner durfte

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