Terror auf Stiles Island
sich davon nicht erweichen lassen. Er hatte ihr nie etwas vorgemacht – und das wusste sie genau. Er hatte ihr einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter gegeben und sich gefragt, ob er wohl je wieder mit ihr im Bett landen würde.
Ein großer, knochiger Kerl mit roten Haaren und einem Pferdeschwanz kam aus Apartment 134 und zündete sich vor dem Eingang eine Zigarette an. Danke, dass Sie in der Wohnung nicht rauchen.
Ob er noch einmal mit Abby schlafen würde, war letztlich auch nicht entscheidend. Immerhin ging er auch mit Marcy ins Bett und gelegentlich auch mit Jenn. Und er würde vermutlich auch künftig mit Jenn schlafen. Bei Jenn konnte man sich nie sicher sein, aber allein die Vorstellung, mit ihr wieder Sex zu haben, ließ alle anderen amourösen Abenteuer umgehend verblassen. Er lächelte still in sich hinein. Es war erheblich einfacher, gelassen über Sex nachzudenken, wenn’s davon reichlich gab.
Die Tür von Apartment 134 öffnete sich wieder und Mrs. Smith trat heraus, um dem rothaarigen Kerl einen Drink zu bringen. Mrs. Smith war eine verdammt gut aussehende Frau. Jesse musste wieder lächeln. Die Frucht von fremden Bäumen war immer eine Verlockung. Er hätte nichts dagegen gehabt, jetzt selbst mit Freunden auf der Terrasse zu stehen, sich ein paar Drinks zu genehmigen und über den Hafen zu blicken. Der Rothaarige nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, schnippte die Kippe ins Meer und folgte Mrs. Smith wieder hinein. Die Tür schloss sich. Jesse schaute auf die Uhr. Fast schon Zeit für einen kleinen Cocktail. Aber nein, er konnte genauso gut warten – und sichlieber zu Hause ein paar schöne Drinks machen. Der Gedanke, abends einige Gläser kippen zu können, war eine Vorstellung, die ihn den ganzen Tag beschwingte. Und es war ja kein Beinbruch, solange er seinen Alkoholkonsum unter Kontrolle hatte. Und er schien ihn ja kontrollieren zu können, meist jedenfalls. Er war sich ziemlich sicher, kein echter Alkoholiker zu sein – nicht mehr zu sein. Wenn er die Dinge halbwegs in den Griff bekommen würde, hätte er die Ernte halb eingefahren. Dann müsste er nur noch Jenn in den Griff bekommen … oder vielleicht besser sich selbst. Vielleicht, dachte er, müsse er Jenn ja gar nicht mehr kontrollieren, wenn er sich erst einmal selbst im Griff hatte. Er musste lernen, seine Reaktionen auf Jenn unter Kontrolle zu bringen. Und wenn er das schaffen würde, müsste er auch nicht mehr in ihrer Beziehung den Cop spielen.
Die Tür öffnete sich wieder. Diesmal traten vier Männer heraus. Einer war der Rothaarige, ein anderer hatte indianische Gesichtszüge und eine ungewöhnliche Ausstrahlung. Sie stiegen in einen braunen Chevy-Van und fuhren los. Der Wagen hatte ein Kennzeichen aus Arizona. Da er nun mal hier war, schrieb sich Jesse die Nummer auf. Lieber zu viel Informationen als zu wenig. Könnte fast schon die Arbeitsplatzbeschreibung für einen Cop sein , dachte Jesse. Einfach alles notieren. Ob es wichtig ist? Keine Ahnung. Ob man die Information eines Tages sinnvoll einsetzen kann? Wer weiß das schon? Warum tut man es? Warum nicht?
Jesse wartete bis kurz nach sieben. Keiner der Smiths ließ sich blicken. Er brauchte einen Drink. Und er hatte schließlich eine Verabredung. Er fuhr los, passierte denKai und den Marinehafen, der noch immer von Wachpersonal abgeriegelt war. Im alten Stadtzentrum, dessen Verkehrsfluss sich merklich verbessert hatte, seit man hier vor Jahren ein Großprojekt auf die Beine gestellt hatte, nahm er die Route über die Charlestown Bridge, bog dann rechts in die Causeway Street ein, wo man gerade den alten »Boston Garden« abriss, vorbei an der letzten Mietskaserne, die nach der Urbanisierung des Westends noch stehen geblieben war. Er sah nichts, was ihm eine weitere Urbanisierung hätte schmackhaft machen können. Er fuhr am neuen Fleet Center vorbei, am alten Liegenschaftsamt und dem ehemaligen Suffolk County Jail, das inzwischen nicht mehr benutzt wurde. Dann unter der Auffahrt zur »Central Artery«, Bostons Stadtautobahn, die nun bald einem Tunnel Platz machen würde, weiter zum Storrow Drive. Der Charles River lag zu seiner Rechten. Jesse war noch nicht lange hier, aber er liebte inzwischen den Fluss und auch diese Stadt, die bereits eine lange Geschichte auf ihrem Buckel hatte, als Los Angeles gerade gegründet wurde. Er nahm die Arlington-Street-Ausfahrt, fand einen Parkplatz in Jenns Straße und ging durch die wohltuende Dunkelheit zu ihrem Apartment
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