Terror: Thriller (German Edition)
weiß nicht, wie wir hier wegkommen.«
Stille. Jesus mit ausgebreiteten Armen. Direkt über ihnen.
»Es gibt noch einen anderen Weg.« Annas Stimme war undeutlich, sie zog sich gerade den Kapuzenpulli über den Kopf. Carla konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sie glaubte, nicht recht verstanden zu haben, doch dann tauchte Annas Kopf wieder auf. Die Kapuze bedeckte ihre Haare. Der Pulli war blau. Ein Surfer tobte auf einer Welle, die quer über Annas Brust rollte.
»Was für ein Weg, Anna?«
Anna streckte ihre Hand nach Carla aus und sagte: »Komm mit. Ich zeig ihn dir.«
Lenzari, Freitag, 4. Juni 2010, 18:35 Uhr
Sie fanden Mario nicht. Sie hatten das ganze Haus auf den Kopf gestellt, aber sie fanden ihn nicht. Jetzt standen sie in Marios Schlafzimmer im zweiten Stock des Hauses. Die Fensterläden waren geschlossen. Es war dunkel hier drin, dunkel und feucht. Fabrizio sah sich um: Das Bett war ungemacht. Die Wolldecke über dem Bettlaken hatte Löcher. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke herab. An der Wand über dem Kopfende des Bettes hing ein Kreuz aus Messing, daneben der Kalender eines Baumaschinenherstellers: Auf der Motorhaube eines Baggers räkelte sich ein Mädchen im roten Bikini. Der Kalender war von 2005.
Das Schlimme war nicht, dass die Menschen, in deren Leben er eindrang, zumeist Opfer eines Verbrechens geworden waren, das Schlimme war die Trostlosigkeit ihrer Leben, die Fabrizio anwehte. Was, dachte er, würde wohl jemand denken, der eines Tages durch seine Wohnung ging und versuchte, sich ein Bild von seinem, Fabrizios, Leben zu machen. Würde der dieselbe Trostlosigkeit empfinden wie er in diesem Augenblick? Vielleicht sollte er künftig immer dafür sorgen, dass ein Strauß frischer Blumen im Zimmer stand.
Das Telefon lag auf dem Nachttisch, der rechts neben dem Bett stand. Cesare nahm es auf und hielt es sich ans Ohr. Dann schüttelte er den Kopf.
»Wir werden im ganzen Ort kein funktionierendes Telefon finden.« Cesare flüsterte. »Jemand hat das Netz lahmgelegt.«
Wahrscheinlich hat Cesare recht, dachte Fabrizio, bei den mittelalterlichen Telefonleitungen hier oben geht das mit dem Taschenmesser. Er ging hinüber zum Fenster und spähte durch einen Schlitz des Fensterladens nach draußen. Cesare trat zu ihm, entriegelte den Fensterladen und öffnete ihn vorsichtig. Von hier aus konnten sie direkt ins Schlafzimmer des Marokkaners sehen. Die Läden waren nicht vorgezogen. Der Fernsehapparat lief, aber sie konnten von ihrer Position aus die Bilder nicht erkennen. Der bläuliche Schein der Mattscheibe war die einzige Lichtquelle im Zimmer. Das Bett stand links vom Fenster, ob dort jemand saß oder lag, war ebenfalls nicht zu sehen.
»Gehen wir rüber«, flüsterte Cesare.
Die Tür zum Haus des Marokkaners war nicht beschädigt oder aufgebrochen, das sahen sie sofort. Sie war geschlossen. Fabrizio holte sein Schlüsselbund hervor und suchte nach dem richtigen Schlüssel. Er hatte ihn noch nie gebraucht. Wenn sie ihre wöchentlichen Kontrollen beim Marokkaner machten, klopften sie immer, wie höfliche Besucher, und der Marokkaner kam dann runter und öffnete. Er hatte noch nie Ärger gemacht, war immer kooperativ gewesen. Fabrizio hatte ihn stets als gutmütig und freundlich eingeschätzt, ein bisschen beschränkt vielleicht, was aber auch daran liegen konnte, dass sein Italienisch nicht besonders gut war. Der Schlüssel passte. Cesare richtete seine Waffe auf die Tür und nickte ihm auffordernd zu. Fabrizio drehte den Schlüssel im Schloss. Die Tür klemmte. Er zog sie zu sich heran, jetzt ließ sie sich öffnen. Mit gezogenen Waffen betraten die beiden Carabinieri die Diele. Die Schuhe an der Wand, der Gestank der Ratten, alles war wie immer. Sie gingen die Treppe nach oben, langsam, darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Als sie den ersten Stock erreicht hatten, wartete Fabrizio, bis sich seine Atmung beruhigt hatte, und lauschte. Abgesehen von der Stimme aus dem Fernseher war kein Geräusch zu hören. Er schob sich langsam mit dem Oberkörper nach vorn und spähte in die Küche. In der Spüle stand ein Sieb, randvoll mit Nudeln. Sie hatten bereits eine dunkle Färbung angenommen. Dann erst bemerkte er die Fliegen, die über die Nudeln krabbelten. Ab und zu erhob sich eine in die Luft, um Sekunden später wieder auf dem Nudelberg Platz zu nehmen. Auf dem Tisch an der Wand stand ein geöffnetes Glas mit Tomatensauce. Es war noch halb voll. In der Küche war der Marokkaner
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