Terror: Thriller (German Edition)
zukam, schlug sie aufgeregt mit den Flügeln und wich mit tänzelnden Schritten aus. Der Fischer betrachtete die Möwe liebevoll.
»Bippo! Vieni!«, rief er.
Dann drehte er sich um und ging langsam weiter. Die Möwe eilte ihm hinterher.
»Drollig«, sagte Marc.
»Was hat er gerufen?«, fragte Anna.
»Komm, Bippo!«
»Bippo?«
»So heißt wohl die Möwe.« Sie sahen dem Fischer und der Möwe nach.
»Ist die zahm?«, fragte Anna.
»Keine Ahnung, was die ist.« Marc sah aufs Meer hinaus. Der Tanker war verschwunden, hinter den Horizont gekippt wahrscheinlich.
»Komm Schatz, lass uns mal nach Hause.«
Er handelte zweimal Rutschen und einmal Wippen mit seiner Tochter aus, und weil der Lebensmittelladen nach der Siesta gerade wieder öffnete, kauften sie danach noch zwei Liter Milch ein. Dann gingen sie durch den zugigen Durchgang, der hinauf zur Via Aurelia führte. Marc nahm Anna bei der Hand. Die Stelle war gefährlich, ein Schritt zu weit, und man stand vor der Kühlerhaube eines der Autos, die sich selbst in den Wintermonaten zahlreich über die Küstenstraße schoben.
»Los!«, rief Marc, als sich eine Lücke zwischen den Autos auftat. Sie flitzten über den Zebrastreifen. Auf der anderen Straßenseite stand ein grüner Glascontainer. Anna entdeckte die Blumenvase mit den Nelken als Erste. Sie stand auf einem Mauerabsatz. An die Mauer unterhalb der Vase war mit Klebestreifen ein Foto geheftet. Es war mit Plastikfolie gegen Regen geschützt und zeigte ein fröhlich lachendes Mädchen. Darunter stand: Valeria, 23 Aprile 2003 – 17 Gennaio 2010. Jemand hatte mit schwarzem Filzstift auf die Plastikfolie geschrieben: »Perché?«
»Was steht da?« Annas Stimme war leise. Oder der Verkehr, der in ihrem Rücken über die Via Aurelia tobte, war so laut.
»›Perché‹ heißt ›warum‹?«, erklärte Marc und legte instinktiv den Arm um die Schulter seiner Tochter. Er wunderte sich, dass sie nicht nachfragte. Anna sagte kein Wort, bis sie in Lenzari angekommen waren.
Sie spielten Uno, aßen zu Abend, und kurz vor 20 Uhr verließ Marc das Haus. Es hatte geregnet. Die Luft hatte sich spürbar erwärmt. Marc ging den schmalen Durchgang hinauf zur Dorfstraße. Dort blieb er einen Moment stehen und lauschte. In der Stille war überlaut das Rauschen des Wassers zu hören, das sich über den Rücken des schlafenden Hundes seinen Weg hinunter ins Tal suchte. Die Schneeschmelze hatte eingesetzt.
Um 20:02 Uhr klopfte Marc an die Tür des Marokkaners. Es dauerte nicht lange, dann hörte er Schritte im Haus. Die Tür wurde geöffnet. Im Schein der nackten Glühlampe wirkte das Gesicht des Marokkaners noch schmaler, die Wangen noch eingefallener als vor drei Wochen. Er hatte tiefe Schatten unter den Augen. Marc trat in die Diele und registrierte, dass der Marokkaner einen gehetzten Blick nach draußen warf, nach rechts und links, bevor er die Tür wieder schloss. Er drehte sich um und wies mit einer Kopfbewegung nach oben, also ging Marc durch den Gestank der Ratten hindurch zur Treppe. Sie setzten sich an den Tisch in der Küche. Es war eiskalt hier drin, schäbig und kaum eingerichtet, aber es war auffallend sauber. Der Marokkaner schien sich auf seinen Besuch vorbereitet zu haben. Er goss Tee in zwei Gläser. Seine Hand zitterte leicht. Tee tropfte auf den Tisch und bildete zwei gleich große Lachen. Marc umfasste sein Glas mit beiden Händen, die Wärme tat gut. Der Marokkaner wischte mit einem Lappen über den Tisch.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er und setzte sich Marc gegenüber auf einen Stuhl, der aussah, als breche er bald zusammen.
»Ich dachte, Sie wollten nicht mit mir reden.« Marc war irritiert. Sämtliche Versuche, mit dem Mann Kontakt aufzunehmen, waren gescheitert, weil der Marokkaner nicht reagiert hatte – und jetzt war er Marc plötzlich dankbar für seine Hartnäckigkeit?
»Ich hatte Angst«, sagte der Marokkaner, »sie haben mich bedroht.«
»Wer sind ›sie‹?«
»Zwei Männer waren bei mir, vor etwa zwei Wochen.«
»Ich weiß, ich habe sie auf Video aufgenommen.«
Der Marokkaner sah Marc erstaunt an, und Marc erzählte, dass er sich überlegt hatte, wie er dem Marokkaner helfen könnte, dass er auf die Idee mit der Videokamera gekommen war und dass die beiden Männer ihm beim Joggen entgegengekommen waren. In einem A6 mit deutschem Kennzeichen. Der Marokkaner lauschte ihm atemlos.
»Verstehen Sie jetzt, warum ich Sie so dringend sprechen wollte?« Marc nippte an seinem
Weitere Kostenlose Bücher