Terror: Thriller (German Edition)
zerbröselte und zerfloss, wenn man zugriff. Ein Albtraum – aus dem sie leider nicht aufwachen würde. Sie musste handeln. Sie musste schnell handeln. Sie musste schneller sein als der Mann mit den grauen Augen.
Eine einzige Straße führte durch Pieve, jene Bundesstraße 28, die Turin und das Piemont mit dem Mittelmeer verband. Der Fluchtweg in Richtung Berge war blockiert, keine hundert Meter von Carla entfernt stand der Carabinieri-Jeep auf der Fahrbahn, und ohne nachsehen zu müssen, wusste sie, dass auch der Weg in Richtung Meer versperrt sein würde. Zwei Polizeiwagen reichten, um Pieve abzuriegeln. Sie hasste die Berge, und vor allem hasste sie Täler. Man kam da nicht mehr raus. Sie vermisste Padua und die Weite der Po-Ebene. Sie vermisste ihr Leben vor dem 20. Juli 2001.
Kurz Durchatmen. Sie presste die Handflächen gegen die Mauer in ihrem Rücken, ein paar Sekunden nur, dann ballte sie die Hände zu Fäusten. Sie drehte sich langsam um, stützte sich mit den geballten Fäusten am kalten Stein der Hauswand ab und spähte um die Ecke. Einen Moment lang dachte sie, vor ihr lägen Sandsäcke, wie im Frühjahr, wenn die Flüsse über die Ufer traten und Schlammlawinen Häuser mit sich in die Tiefe rissen. Oder wie im Krieg. Aber dann realisierte sie, dass es Säcke mit Hundefutter waren, fünfzehn Kilo der Sack. Die Tierhandlung. Sie stand direkt neben der Tierhandlung. Aquarien verschiedener Größe waren unter den Arkaden gestapelt. Über die Hundefutter-Säcke hinweg konnte sie die Bundesstraße sehen und einen Teil des Jeeps. Er stand noch da. Sie sah die Uniform, die roten Streifen, die Beine lässig übereinander geschlagen, gegen den Kotflügel gelehnt. Reglos. Sie konnte seinen Kopf nicht sehen, die Arkaden verdeckten ihn. Trotzdem wusste sie, dass er es war. In diesem Moment ließ er den rechten Arm sinken. Carla sah, dass er ein Funkgerät in der Hand hielt.
Sie rannte los. Ihre Schritte hallten zwischen den hohen Mauern. Denk nach, sagte sie sich, gibt es hier irgendjemanden, der dir helfen kann, irgendjemand, der dich und Anna versteckt oder von hier wegbringt – aber sie kannte hier keinen. Wer würde ihr glauben? Ihr fiel niemand ein.
Sie hatte die Hälfte des Weges bis zur Kirche zurückgelegt, als plötzlich, wie aus dem Nichts, der Hund von vorhin wieder auftauchte. Er rannte erwartungsvoll neben ihr her und wedelte mit dem Schwanz. Er schien spielen zu wollen.
»Hau ab!«, zischte Carla ihm zu. Doch der Hund rannte fröhlich bellend weiter. Scheiße, dachte Carla, bloß kein Aufsehen. Sie presste die Tüte mit den Kleidern an sich.
»Hau ab!« Diesmal brüllte sie. Er schnappte nach ihrem Bein und sie trat zu, mit aller Kraft, sie erwischte ihn an der Schnauze. Er heulte auf, zog den Schwanz ein. Sie erreichte den Eingang der Kirche, sah sich noch einmal um. Der Hund verzog sich. Sonst war niemand zu sehen. Keine Passanten, keine Polizisten. Nur am rechten oberen Ende des Kirchplatzes, in Richtung Theater, zog eine Kehrmaschine ihre Bahn. Sie schoss gelbe Lichtgarben durch den Nieselregen. Der Hund trottete ihr langsam entgegen. Vom Berg herunter kroch der Nebel auf Pieve zu. Carla zog die schwere Tür auf und trat in die Kirche. Sie sprang über die Kordel und eilte die Stufen der Kanzel nach oben.
Anna schien sich während ihrer Abwesenheit nicht bewegt zu haben. Sie kauerte noch immer auf dem Boden der Kanzel, den Rücken an den kalten Stein der Balustrade gepresst. Sie schaute kaum auf, als Carla ihr die Plastiktüte mit den Kleidern entgegenstreckte.
»Zieh das an. Bitte!«
Anna reagierte nicht.
»Anna! Wir müssen hier weg!« Carla leerte die Plastiktüte aus. Die Kleider fielen auf den Boden der Kanzel.
»Zieh das an und dann los.«
Aber das Mädchen reagierte nicht. Carla spürte, dass ihre Kräfte schwanden. Sie kniete sich zu Anna.
»Hör zu: Die Polizisten haben uns den Weg abgeschnitten. Ich weiß nicht, wo wir hingehen können, aber wir müssen hier weg. Ich will dir helfen, aber das geht nur, wenn du mitmachst.«
Sie sah Anna in die Augen. Und plötzlich griff das Mädchen nach den Kleidern und begann sich anzuziehen. Schweigend. Und langsam. Viel zu langsam.
»Soll ich dir helfen?« Carla bemühte sich, ihre Stimme nicht allzu ungeduldig klingen zu lassen. Anna nickte, also half sie ihr.
Mehr um ihre Gedanken zu ordnen als zu Anna, sagte sie:
»Es gibt hier nur eine einzige Straße, und die Polizisten haben sie an beiden Seiten von Pieve abgesperrt. Ich
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