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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Entscheidung treffen. Wenn er die beiden Sodomiten anzeigte, würde ihm keiner der Expeditionsteilnehmer  – Offiziere, Freunde, Untergebene – mehr so begegnen wie vorher.
    Aber wenn er die zwei Kerle nicht meldete, musste er sich auf endlose Unverschämtheiten von diesem Hickey gefasst machen. Durch seine Feigheit würde sich Irving in den kommenden Wochen
und Monaten einer Art Erpressung ausliefern. Außerdem konnte er sich auf der Wache draußen in der Dunkelheit nicht mehr sicher fühlen und drinnen in seiner Kajüte nicht mehr ruhig schlafen – sofern man angesichts dieses mörderischen weißen Ungeheuers überhaupt noch von Sicherheit reden konnte –, weil er ständig damit rechnen musste, dass sich Mansons Hände um seine Kehle schlossen.
    »Ach, ihr könnt mich mal.« Irvings Worte drangen durch die knisternde Kälte des Lastdecks. Als ihm auffiel, was er da soeben gesagt hatte, musste er laut lachen. Das Lachen klang seltsamer, schwächer und doch irgendwie unheimlicher als die Worte.
    Da er nun bis auf einige Tonnen und das Kabelgatt alles durchsucht hatte, konnte er wohl wieder hinauf ins Unterdeck steigen. Aber er wollte noch abwarten, bis Hickey und Manson verschwunden waren.
    Mühsam bahnte er sich einen Weg durch schwimmende leere Kisten. An dieser Stelle des nach unten krängenden Bugs reichte ihm das Wasser bis über die Knöchel, und seine durchweichten Stiefel brachen durch eine dünne Eisschicht. Schon in wenigen Minuten war mit Erfrierungen an den Zehen zu rechnen. Das Kabelgatt befand sich im vordersten Teil der Vorpiek, wo die Schiffswände am Bug zusammentrafen. Es war keine richtige Kammer – die beiden Türen waren höchstens drei, und der Raum selbst war vielleicht vier Fuß hoch –, sondern nur ein Verschlag zum Verstauen der starken Ankertrossen. Im Kabelgatt stank es immer entsetzlich nach Flussschlamm und Brackwasser, obwohl das Schiff schon vor Jahren aus dem letzten Hafen ausgelaufen war. Zwischen den gewundenen und übereinandergestapelten Tauen war kaum Platz in dem übelriechenden Gelass.
    Leutnant Irving zerrte die widerspenstigen Türen auf und hielt seine Laterne in die Öffnung. Hier, wo sich der Bug und der Bugspriet direkt in das Packeis gebohrt hatten, war das Ächzen von draußen besonders laut.

    Der Kopf von Lady Silence schoss hoch, und das Licht spiegelte sich in ihren dunklen Augen wie in denen einer Katze.
    Sie hatte weißbraune Felldecken unter sich ausgebreitet wie einen Teppich und sich einen schweren Pelz – vielleicht ihren Anorak – um die Schultern gelegt. Darunter war sie nackt.
    Der Boden des Kabelgatts lag einen guten Fuß höher als das überschwemmte Deck des Kielraums. Sie hatte die wuchtigen Trossen so weit auseinandergeschoben, dass in dem Wirrwarr überhängender Taue eine niedrige, fellbedeckte Höhle entstanden war.
    Eine offene Flamme in einer mit Öl oder Waltran gefüllten kleinen Konservenbüchse strahlte Licht und Wärme aus. Die Eskimofrau war gerade dabei, ein Stück rohes, blutiges Fleisch zu verspeisen. Knapp vor dem Gesicht schnitt sie mit einem kurzen, aber offenbar äußerst scharfen Messer die Bissen ab und schob sie sich in den Mund. Das Messer hatte einen Griff aus Horn oder Knochen mit einer Art Prägung darauf. Lady Silence hatte sich auf Knien über die Flamme gebeugt, und ihre kleinen herabhängenden Brüste erinnerten Leutnant Irving an die Statue der wilden Wölfin, die die Säuglinge Romulus und Remus genährt hatte.
    »Ich bitte vielmals um Verzeihung, Madame.« Irving tippte sich an die Mütze und schloss die Türen.
    Er wankte einige Schritte zurück durch den Matsch und scheuchte dabei mehrere Ratten auf. Zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten war er so verwirrt, dass er kaum noch klar denken konnte.
    Natürlich musste er dem Kapitän von dem Versteck der Eskimofrau erzählen. Allein schon wegen der Brandgefahr, die von der offenen Flamme ausging.
    Und wo hatte sie nur das Messer her? Es sah aus wie ein von Eskimos angefertigtes Gerät, nicht wie eine Waffe oder ein Werkzeug aus dem Schiffsbestand. Vor fünf Monaten war sie
doch bestimmt gründlich durchsucht worden. Konnte sie das Messer seit letztem Juni irgendwo verborgen haben?
    Versteckte sie womöglich noch andere Dinge?
    Und das frische Fleisch.
    An Bord gab es kein frisches Fleisch, da war sich Irving völlig sicher.
    War sie vielleicht auf die Jagd gegangen? Mitten im Winter, bei diesem Schneesturm und in dieser Dunkelheit? Und falls ja, was

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