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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Herren, ist, daß wir an Bord unserer Schiffe nicht einen Mann haben, nicht einmal in den Reihen unserer würdigen Seesoldaten, der sich darauf verstünde, eine Robbe oder ein Walroß zu erlegen – sollten uns diese Geschöpfe je wieder mit ihrer Gegenwart beehren – oder größeres Wild wie etwa Rennthiere zu schießen, welche sich uns schon lange nicht mehr gezeigt haben.«
    Wir schwiegen.
    »Ich danke Ihnen für Ihre Sorgfalt, Ihre gründliche Inventur und Ihren ausgezeichneten Bericht, Mr. Peddie, Mr. Goodsir, Mr. MacDonald und Mr. Stanley. Fortan werden wir jene Büchsen, welche Sie als gehörig verlöthet erachten, von jenen trennen, die unzureichend verbleyt, aufgebläht oder auf andere Weise offenkundig verdorben sind. Vorerst sollen die jetzigen Zwey-Drittel-Rationen beibehalten werden, doch nach dem Weihnachtstage werde ich eine draconischere Rationirung verhängen.«
    Wenig später streiften Dr. Stanley und ich unsere dicken Winterplünnen über und stiegen hinauf an Deck, um Dr. Peddie, Dr. MacDonald, Capitain Crozier und einer Escorte von vier mit Schrotflinten bewaffneten Seemännern nachzublicken, welche ihren langen, finsteren Weg zurück zur Terror antraten.
    Als ihre Laternen und Fackeln im stöbernden Schnee verschwanden und sich das Tosen des Windes in den Wanten mit dem beständigen Mahlen und Ächzen des Eises gegen den Rumpf der Erebus vermischte, beugte sich Stanley nahe heran und rief in mein von einem Schal bedecktes Ohr: »Es wäre ein Segen, wenn sie die Steinmale verfehlen und sich auf
dem Rückweg verirren würden. Oder wenn das Wesen aus dem Eise sie heute Nacht verschleppen würde.«
    Ich wandte mich um und blickte meinen Collegen voller Entsetzen an.
    »Der Tod durch Verhungern ist grausam, Goodsir«, fuhr Stanley fort. »Glauben Sie mir. Ich habe ihn in London gesehen, und ich habe ihn bei Schiffbrüchigen gesehen. Doch der Tod durch Scorbut ist noch schlimmer. Es wäre besser, wenn uns dieses Wesen alle noch heute holen würde.«
    Damit stiegen wir wieder hinab in die flammenflackernde Dunkelheit des Unterdecks und in eine Kälte, die jener der höllischen arctischen Nacht kaum nachstand.

19
Crozier
    70°05′ NÖRDLICHE BREITE | 98°23′ WESTLICHE LÄNGE
5. DEZEMBER 1847
     
     
     
    A n einem Dienstag in der vierten Novemberwoche kam das Wesen aus dem Eis während der Hundewache an Bord der Erebus und holte sich Thomas Terry. Es zerrte den Bootsmann von seinem Posten am Achtersteven und ließ nur den Kopf des Mannes auf dem Schanzkleid zurück. Weder dort noch auf dem eisglatten Deck oder am Rumpf war Blut zu sehen. Dies ließ nur einen Schluss zu: Das Ungeheuer hatte Terry gepackt und ihn Hunderte von Faden hinaus in die Finsternis geschleppt, wo sich die Eiszinnen erhoben wie Bäume in einem dichten weißen Wald. Dort hatte es ihn abgeschlachtet, in Stücke gerissen und vielleicht sogar gefressen. Allerdings zweifelten die Männer immer stärker daran, dass das weiße Geschöpf den Expeditionsteilnehmern aus Hunger nachstellte. Zuletzt hatte es dann Terrys Kopf zurückgelegt, ehe den Wachen steuerbord und backbord das Fehlen des Bootsmanns aufgefallen war.
    Die Seeleute, die am Ende der Hundewache Terrys Kopf entdeckt hatten, erzählten ihren Maaten in den folgenden Tagen immer wieder von dem Gesicht des armen Bootsmanns – die Kiefer sperrangelweit offen, wie mitten im Schrei erstarrt, die Lippen über die Zähne hochgezogen, die Augen aus den
Höhlen gequollen. An seinem Gesicht und Kopf war kein einziger Abdruck eines Zahns oder einer Pranke zu sehen, nur der schartige Riss am Hals, die grau wie der Schwanz einer Ratte herausragende dünne Speiseröhre und der weiße Rückenmarksstumpf.
    Plötzlich fanden die mehr als hundert noch lebenden Seeleute geschlossen zur Religion. Die meisten Männer an Bord der Erebus hatten zwei Jahre lang über John Franklins endlose Gottesdienste gemurrt, doch jetzt empfanden selbst diejenigen, die eine Bibel nicht einmal erkannt hätten, wenn sie darüber gestolpert wären, eine tiefe Sehnsucht nach geistlichem Trost. Als sich Thomas Terrys Enthauptung allmählich herumsprach – Kapitän Fitzjames hatte die segeltuchumhüllten Überreste nach unten in die Totenkammer auf dem Lastdeck der Erebus schaffen lassen –, wurden Forderungen nach einer großen gemeinsamen Sonntagsmesse für beide Mannschaften laut. Es war der rattengesichtige Cornelius Hickey, der spätabends Crozier aufsuchte, um ihm das Gesuch vorzulegen. Der

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