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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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donnern, begann Blanky immer schneller hinauszukriechen, bis er sich fast vierzig Fuß vom Mast entfernt hatte und damit weit jenseits des Schanzkleids fünfzig Fuß unter ihm angelangt war. Wenn ein Matrose beim Bedienen der Segel so weit draußen im Tauwerk war und ausglitt, dann stürzte er zwangsläufig in die See. Blanky dagegen würde in sechzig Fuß Tiefe auf dem Eis aufschlagen.
    Plötzlich wurden sein Gesicht und seine Schultern umfangen  – ein Netz, ein grobes Spinnengewebe hielt ihn fest. Er war kurz davor, aufzuschreien. Dann erkannte er, was es war: die Steuerbordwanten, die normalerweise als eine Art breite Strickleiter vom Schanzkleid zu den höheren Salingen führten und nur für den Winter oben an der Spitze des Untermasts befestigt worden waren, damit die Arbeitstrupps dort das Eis herunterschlagen konnten. Dieses Tauwerk war es, das unglaublicherweise durch zwei Prankenhiebe des Ungeheuers aus seinen zahlreichen Rüsteisen am Schiffsrumpf gerissen worden war. Wie kleine Segel waren diese Wanten und die dazwischen geflochtenen Webeleinen, auf denen sich inzwischen eine dicke
Eisschicht gebildet hatte, weit hinaus auf die Backbordseite des Schiffs geweht worden.
    Wieder handelte Blanky, ohne lange zu überlegen. Jedes Nachdenken in sechzig Fuß Höhe über dem Eis hätte ihn gelähmt.
    Er warf sich aus den knarrenden Webeleinen in die frei schwingenden Steuerbordwanten.
    Wie erwartet wurden die Taue durch das plötzliche Gewicht zurück zum Mast gerissen. In einem Abstand von einem Fuß sauste er an der haarigen Gestalt an der Gabelung von Mast und Spiere vorbei. Es war so dunkel, dass Blanky kaum mehr als die furchteinflößenden Umrisse erkennen konnte. Doch er sah, wie ein dreieckiger Schädel, der fast so groß war wie sein Oberkörper, auf einem für diese Welt viel zu langen und schlangenartigen Hals herumschoss, und er hörte das laute Schnappen, als Zähne, länger als seine eisstarren Hände, genau dort aufeinanderkrachten, wo er gerade vorbeigeflogen war. Der Atem des Ungeheuers schlug dem Eislotsen ins Gesicht – die glühende, aasige Ausdünstung eines fleischfressenden Raubtiers, nicht der Fischgestank, den er aus dem offenen Maul erlegter Polarbären kannte. Es war ein Gestank nach faulendem Menschenfleisch, vermischt mit Schwefel, so heiß wie ein Luftzug aus der offenen Luke eines Dampfkessels.
    In diesem Augenblick begriff Thomas Blanky, dass die Seeleute, die er als abergläubische Narren verflucht hatte, recht hatten. Dieses Wesen aus dem Eis war ebenso sehr ein Dämon oder Gott wie ein Tier aus Fleisch und Blut. Es war eine Naturgewalt, die man besänftigte oder anbetete, wenn man schon nicht vor ihr fliehen konnte.
    Nun hatten die Wanten den äußersten Punkt erreicht, und der Rückschwung drohte ihn genau in den riesigen linken Vorderarm zu befördern, der sich durch den wehenden Schnee nach ihm ausstreckte.

    Blanky drehte sich und warf sich mit voller Wucht bugwärts. Er spürte, wie das zerrissene Tauwerk seinem Gewicht folgte, und schwang sich mit krampfhaft zappelnden Beinen nach oben, um zur dritten Steuerbordspiere zu gelangen.
    Er segelte über sie hinweg und berührte sie nur leicht mit dem linken Stiefel, dessen Sohle über das Eis schlitterte. Doch als die Wanten zurückpendelten, fanden beide Stiefel Halt auf der Spiere, und er stieß sich mit aller Kraft ab.
    Das Gewirr aus Tauen schwenkte in hohem Bogen in achterlicher Richtung auf den Großmast zu. Blankys Beine hingen in der Luft, immer noch fünfzig Fuß über dem eingestürzten Zelt und den Vorräten unten an Deck, und er zog den Rücken so weit wie möglich ein, als er am Mast und dem dort auf ihn wartenden Ungeheuer vorbeisauste.
    Keine fünf Zoll hinter seiner Wirbelsäule harkten Klauen durch die Luft. Selbst in seiner Todesangst musste Blanky staunen. Er war sich sicher, dass er den Großmast auf seiner Flugbahn in einem Abstand von fast zehn Fuß passiert hatte. Das Wesen musste die Krallen seiner rechten Pfote – Hand, Tatze, Teufelspranke  – in den Mast gebohrt, sich fast frei hängend hinausgelehnt und mit dem wuchtigen, sechs Fuß langen linken Arm nach ihm geschlagen haben.
    Aber es hatte ihn verfehlt.
    Wenn Blanky zurückflog, würde es ihn nicht mehr verfehlen.
    Er lockerte seinen Griff an den Wanten und ließ sich so rasch daran hinuntergleiten wie an einem Klettertau. Jedes Mal wenn seine tauben Finger über die Webeleinen scharrten, lief er Gefahr, völlig den Halt zu verlieren und

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