Terror
wenig zur Besinnung zu kommen.
Jetzt waren vom Vordeck deutlich menschliche Rufe zu vernehmen. Lichtkreise von Laternen, alle nicht größer als zehn Fuß, erschienen in der Nähe des Bugs und beleuchteten die waagrechten Zeilen aus sturmgepeitschtem Schnee. Dann hörte Blanky ein dumpfes Poltern, als das Ungeheuer am Mast hinunterrutschte und auf dem Deck landete. Wieder wurden Schreie laut – die Männer waren beunruhigt, obwohl sie das Geschöpf in dem Gewirr von zerbrochenen Balken, herabgestürzten Tauen und verstreuten Fässern im Mittschiff nicht deutlich erkennen konnten. Ein Flintenschuss krachte.
Mit vor Schmerzen zusammengebissenen Zähnen stemmte sich Blanky auf Hände und Knie. Er hatte keine Handschuhe mehr an. Auch sein Kopf war unbedeckt, der Zopf hatte sich bei seinen zahlreichen Verrenkungen aufgelöst, und sein langes, grau durchsetztes Haar wehte im Wind. Er spürte weder Finger, Gesicht noch Gliedmaßen, doch alles dazwischen tat ihm auf die eine oder andere Weise weh.
Plötzlich sah er das Geschöpf mit allen vier Beinen gleichzeitig in der Luft über das niedrige Steuerbordschanzkleid setzen. Im Schein der Laternen stürzte es auf ihn zu.
Im Nu hatte sich Blanky hochgerappelt und rannte hinaus auf das finstere, zerklüftete Meereis.
Erst nachdem er sich rutschend und stolpernd, purzelnd und laufend ungefähr fünfundzwanzig Faden weit vom Schiff entfernt hatte, wurde ihm klar, dass er damit vielleicht sein Todesurteil unterschrieben hatte.
Er hätte in der Nähe des Schiffs bleiben müssen. Er hätte um die schneebedeckten Boote herum und dann an der Steuerbordwand entlanglaufen müssen, um über den tief ins Eis gebohrten Bugspriet hinaufzuklettern und auf die Backbordseite zu gelangen. Dann wäre es auch möglich gewesen, die anderen zu Hilfe zu rufen.
Nein, erkannte er. Er wäre tot gewesen, bevor er sich durch die Bugtaue gekämpft hätte. Das Wesen hätte ihn in zehn Sekunden erwischt.
Warum bin ich in diese Richtung gelaufen?
Er hatte doch eine Idee gehabt, bevor er sich aus den Wanten fallen ließ. Was war das nur gewesen, verdammt?
Hinter sich auf dem Eis hörte Blanky dumpfe, scharrende Schritte.
Irgendj emand – vielleicht war es Goodsir gewesen, der Asssistenzarzt der Erebus – hatte ihm und einigen anderen Seeleuten einmal beschrieben, wie schnell ein Polarbär über das Eis auf seine Beute zustürzen konnte. Mit fünfundzwanzig Knoten pro Stunde, wenn er sich richtig erinnerte. Blanky war noch nie ein schneller Läufer gewesen. Und jetzt musste er unzähligen Zinnen, Kämmen und Sprüngen im Eis ausweichen, die er überhaupt erst aus wenigen Fuß Entfernung erkennen konnte.
Deswegen bin ich hier rausgerannt. Das war mein Plan.
Mit großen Sprüngen folgte ihm das Ungeheuer und wich spielend leicht den schrundigen Zinken und Trümmern aus, die Blanky mühsam umrunden musste. Der Eislotse keuchte und
schnaufte wie ein zerrissener Blasebalg. Die riesenhafte Gestalt hinter ihm dagegen knurrte leise – vor Vergnügen?, aus Vorfreude? –, während ihre Vorderpfoten mühelos auf dem Eis aufsetzten und mit jedem Schritt eine Strecke zurücklegten wie Blanky mit vier oder fünf.
Blanky befand sich jetzt auf dem Eisfeld ungefähr hundert Faden vom Schiff entfernt. Als er gegen einen Eisbrocken prallte, den er zu spät gesehen hatte, und seine Schulter sich zu den vielen anderen Stellen seines Körpers gesellte, die vor Schmerz ganz taub waren, merkte er zum ersten Mal, dass er schon seit längerem blind wie eine Fledermaus um sein Leben rannte.
Die Laternen auf der Terror lagen inzwischen weit hinter ihm, eine schier unglaubliche Entfernung trennte ihn vom Schiff. Er hatte keine Zeit, um sich lange nach ihnen umzublicken. So weit weg konnte ihn ihr Schein ohnehin nicht mehr erreichen, und wenn, würden sie ihn vielleicht nur unnötig ablenken.
Ablenken wovon? Blanky begriff, dass er sich rennend, hüpfend und ausweichend durch seine eigene geistige Landkarte von der Umgebung bewegte. Über ein Jahr lang hatte er beinahe täglich hinaus auf die gefrorene See mit all ihren Rinnen und Rücken, Falten und Sprüngen gestarrt, und für ein paar Monate hatte er dies sogar im arktischen Tageslicht tun können. Selbst im Winter hatte er manchmal auf Wache im Schein der Sterne, des Mondes oder unter den tanzenden Polarlichtern den eisigen Umkreis um das eingeschlossene Schiff mit dem kundigen Auge des Eislotsen betrachtet.
Ungefähr hundert Faden weit hier draußen im
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