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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Inhalt seines bis zum Rand vollen Brechkübels ist allerdings längst festgefroren, und wie durch einen Nebel nimmt er wahr, dass die beiden Männer den Boden säubern. Sie flößen ihm ein wenig Wasser ein, dann sinkt er zurück auf das kalte Bettzeug. Einer von ihnen breitet eine warme Decke über ihn – eine warme, trockene, nicht gefrorene Decke  –, und er möchte weinen vor Dankbarkeit. Er will auch etwas sagen, doch ehe er die Worte gefunden und formuliert hat, gleitet er wieder zurück in den Mahlstrom seiner Visionen, in dem es keine Worte gibt.
    Er sieht einen Jungen mit schwarzem Haar und grünlicher
Haut, der vor einer urinfarbenen Fliesenwand zusammengekrümmt auf dem Boden liegt. Crozier erkennt, dass der Junge ein Epileptiker in irgendeiner Irrenanstalt ist. Der Junge zeigt keinerlei Regung, nur die Augen zucken ständig hin und her wie die eines Reptils. Diese Gestalt bin ich.
    Sobald er das gedacht hat, merkt Crozier, dass dies nicht seine Angst ist. Dies ist der Alptraum eines anderen Menschen. Er war kurz im Kopf eines anderen.
    Nun dringt Sophia Cracroft in ihn ein. Crozier stöhnt in seinen Lederriemen.
    Er sieht, wie sie sich am Schnabeltierweiher nackt an ihn drückt. Er sieht, wie sie kühl und abweisend auf der Steinbank im Garten des Government House sitzt. Er sieht, wie sie an jenem Maitag, an dem die Erebus und die Terror in See gestochen sind, in ihrem blauen Seidenkleid am Hafen von Greenhithe steht und winkt – aber nicht ihm. Und jetzt sieht er sie, wie er sie noch nie erblickt hat: eine zukünftige Sophia Cracroft, stolz, trauernd, insgeheim froh über ihre Trauer, gestärkt und zu neuem Leben erwacht als Lady Jane Franklins Assistentin, Begleiterin und Sekretärin. Zusammen mit Lady Jane reist sie überallhin, und die Presse spricht von den zwei unbezähmbaren Frauen. Fast in demselben Maß wie ihre Tante gibt sie sich stets ernst, hoffnungsvoll, kämpferisch, weiblich und exzentrisch und ist immer darauf bedacht, die Welt von der Notwendigkeit weiterer Unternehmungen zur Rettung Sir John Franklins zu überzeugen. Francis Crozier wird sie nie mehr erwähnen, nicht einmal im vertraulichen Gespräch. Diese Rolle ist Sophia wie auf den Leib geschneidert: tapfer, gebieterisch, privilegiert. So kann sie jahrzehntelang die Kokette spielen, ohne sich je auf eine echte Liebe einlassen zu müssen. Sie wird nie heiraten. Sie wird mit Lady Jane die Welt bereisen und öffentlich nie die Hoffnung aufgeben, dass der verschollene Sir John noch gefunden werden kann. Lange nachdem jede wirkliche Hoffnung erloschen
ist, wird sie die Sympathien, die Macht und die herausgehobene Stellung genießen, die ihr durch das Witwendasein zweiter Hand geboten werden.
    Crozier versucht sich zu übergeben, doch sein Magen ist schon seit Stunden oder gar Tagen leer. Er kann sich nur krümmen und die Krämpfe über sich ergehen lassen.
    Plötzlich befindet er sich in dem abgedunkelten Salon eines engen, opulent eingerichteten Farmhauses in Hydesdale, New York, zwanzig Meilen westlich von Rochester. Crozier hat noch nie von Hydesdale oder Rochester gehört. Er weiß nur, dass es der Frühling des Jahres 1848 ist, vielleicht nur wenige Wochen in der Zukunft. Durch einen kleinen Spalt in den zugezogenen, dicken Vorhängen ist zu erkennen, dass draußen ein Gewitter tobt. Donner erschüttert das Haus.
    »Komm, Mutter«, ruft eines der zwei Mädchen am Tisch. »Du findest es bestimmt erbaulich, das versprechen wir dir.«
    »Ich finde es bestimmt schrecklich.« Die Mutter ist eine farblose Frau mittleren Alters mit einer Falte auf der Stirn, die sich senkrecht von ihrem streng gebundenen, ergrauenden Haarknoten bis zu ihren schwarzen Augenbrauen eingegraben hat. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich zu so etwas hergebe.«
    Crozier kann nur staunen über den groben amerikanischen Landdialekt. Die meisten Amerikaner, die er kennengelernt hat, waren abtrünnige Seemänner, Kapitäne der US Navy oder Walfänger.
    »Beeil dich, Mutter!« Das Mädchen, das ihre Mutter in solchem Befehlston zum Tisch zitiert, ist die fünfzehnjährige Margaret Fox. Sie ist züchtig gekleidet und auf eine etwas einfältige Weise reizvoll, wie es Crozier bei einigen wenigen gesellschaftlichen Anlässen schon an anderen Amerikanerinnen bemerkt hat. Das andere Mädchen am Tisch ist Margarets elfjährige Schwester Katherine. Das jüngere Mädchen, dessen Gesicht
im flackernden Kerzenlicht kaum zu erkennen ist, hat größere Ähnlichkeit mit

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