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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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dem Wesen aus dem Eis bekommt? Nachdem er Silence hier draußen vor so vielen Wochen zusammen mit dem Ungeheuer beobachtet hatte, hatte er sich eingeredet, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein. Zur Hälfte war er davon überzeugt, dass es so war. Doch die ehrlichere Hälfte von Irvings Gedächtnis hatte nicht vergessen, was er gesehen hatte. Das Wesen hatte ihr Fleischstücke von Robben, Polarfüchsen oder anderem Wild gebracht. Damals hatte Lady Silence den Ort zwischen den Eisbrocken und -zinnen mit frischem Fleisch verlassen.
    Auch an Charles Frederick Des Voeux, den Unterleutnant der Erebus , musste er denken, mit seinen Geschichten über Männer und Frauen in Frankreich, die sich in Wölfe verwandelten. Wenn so etwas denkbar war – viele Offiziere und alle einfachen Seeleute hielten es für möglich –, warum sollte sich dann nicht auch eine Eingeborene mit dem Bildnis eines weißen Bären um den Hals in einen Riesenbären verwandeln können, der die Schlauheit und Tücke eines Menschen besaß?
    Nein, unmöglich, er hatte die zwei doch zusammen auf dem Eis gesehen.
    Zitternd knöpfte sich Irving die letzten Plünnen zu. Es war
wirklich warm in diesem kleinen Schneehaus. Trotzdem liefen ihm jetzt Schauer über den Rücken. Er spürte schon das Rumoren des Specks in seinen Eingeweiden und entschied, dass es höchste Zeit für den Aufbruch war. Wahrscheinlich konnte er von Glück sagen, wenn er es noch rechtzeitig zum Abtritt der Terror schaffte. Er hatte wenig Lust, seinem Bedürfnis auf dem Eis nachzukommen; es war schon schlimm genug, wenn er sich an der Nase Erfrierungen zuzog.
    Lady Silence hatte gesehen, wie er die alte Serviette und das Porzellantöpfchen weggepackt hatte – Gegenstände, die sie vielleicht gut hätte gebrauchen können, wie er erst später erkannte. Nun berührte sie noch einmal mit dem Seidentaschentuch ihre Wange und reichte es ihm dann.
    »Nein«, wehrte Irving ab. »Das ist ein Geschenk von mir. Ein Zeichen meiner Freundschaft und tiefen Wertschätzung. Sie müssen es behalten. Wenn nicht, wäre ich beleidigt.«
    Darauf bemühte er sich, Lady Silence das soeben Gesagte durch Zeichen und Gebärden zu verstehen zu geben. Die Muskeln zu beiden Seiten ihres Mundes zuckten leicht, während sie ihn beobachtete.
    Als er ihre Hand mit dem Taschentuch zurückschob, achtete er darauf, nicht ihren nackten Busen zu berühren. Der weiße Stein des Bärenamuletts zwischen ihren Brüsten schien wie aus eigener Kraft zu erstrahlen.
    Irving bemerkte, dass ihm viel zu heiß war. Schon drohte der Raum vor seinen Augen zu verschwimmen. In seinen Eingeweiden regte sich ein Brodeln, beruhigte sich wieder und regte sich erneut.
    »Hollaho.« In den kommenden Wochen sollte er sich vor Scham über diese drei Silben in seiner Koje wälzen, obwohl Silence die Albernheit und Unangemessenheit des Ausdrucks gar nicht verstanden haben konnte. Trotzdem …
    Irving berührte seine Mütze, wickelte sich den Schal um Gesicht
und Kopf, streifte sich Handschuhe und Fäustlinge über, drückte die Tasche an die Brust und stürzte sich in die Ausgangsöffnung.
    Auf dem Weg zurück zum Schiff pfiff er nicht, obwohl er es am liebsten getan hätte. Die Möglichkeit, dass hier draußen im Schatten der Eiszinnen ein riesiges menschenfressendes Ungeheuer lauern könnte, hatte er fast vergessen. Wenn das Wesen John Irving in dieser Nacht nachgestellt hätte, dann hätte es den Dritten Leutnant dabei ertappt, wie er Selbstgespräche führte und sich gelegentlich mit dem Fäustling eine Kopfnuss versetzte.

30
Crozier
    70°05′ NÖRDLICHE BREITE | 98°23′ WESTLICHE LÄNGE
15. FEBRUAR 1848
     
     
     
    M eine Herren, es ist an der Zeit, dass wir uns über die Möglichkeiten für unser Vorgehen in den kommenden Monaten unterhalten«, erklärte Kapitän Crozier. »Ich habe Entscheidungen zu treffen.«
    Die Offiziere und einige andere Besatzungsmitglieder waren zu einer Besprechung in die Große Messe der Terror gerufen worden. Dabei war die Wahl nicht etwa deshalb auf Croziers Schiff gefallen, um Kapitän Fitzjames und seinen Offizieren Ungelegenheiten zu bereiten, die am Vormittag herübermarschiert waren und für den Rückweg darauf hofften, die kurze Zeit des Mittagslichts ausnutzen zu können. Es ging auch nicht darum, den Wechsel des Flaggschiffs zu betonen. Der einzige Grund war, dass auf der Terror weniger Männer im Lazarett lagen. Man hatte sie vorübergehend in ein Notlazarett in der Vorpiek gebracht, um in der

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