Terror
den so geschaffenen behelfsmäßigen Kai kletterten alle nach oben und spähten in die Richtung, in der sie offenes Wasser erwartet hatten.
Nichts als eine endlose weiße Fläche. Eis und Schnee und Zinnen. Schon senkten sich auch die Wolken wieder herab und ballten sich zu treibendem Nebel zusammen. Es fing an zu schneien.
Nachdem Leutnant Little in alle Richtungen gespäht hatte, hoben sie den kleinsten Mann, Berry, auf die Schultern des sechsunddreißigjährigen William Wentzall, der der Größte der Gruppe war.
Mit dem Fernrohr in der Hand machte Berry die Kompassrunde. »Nich mal ’n verdammter Pinguin.« Es war ein alter Witz
in Anspielung auf Kapitän Croziers Reise zum anderen Pol. Niemand lachte.
»Kannst du irgendwo dunklen Himmel erkennen?«, fragte Leutnant Little. »So wie man ihn über offenem Wasser sieht. Oder die Spitze eines hohen Eisbergs?«
»Nein, Sir. Un die Wolken komm näher.«
Little nickte. »Fahren wir zurück, Maaten. Mr. Peglar, Sie gehen als Erster ins Boot und halten die Pinne.«
Während der neunzigminütigen Fahrt über den See sprach keiner ein Wort. Das Sonnenlicht wurde allmählich schwächer, und die Landschaft versank erneut im Nebel, doch schließlich ragte der kricketfeldgroße Eisberg aus dem Dunst, und sie wussten, dass sie auf dem richtigen Weg waren.
»Nicht mehr weit bis zur Fahrrinne«, rief Little vom Bug aus. Manchmal wurde der Nebel so dicht, dass Peglar im Heck Schwierigkeiten hatte, den Leutnant zu erkennen. »Mr. Peglar, ein wenig mehr nach backbord, bitte.«
»Aye aye, Sir.«
Die Rudergasten blickten nicht einmal auf. Alle hingen sie ihren trüben Gedanken nach. Wieder fiel Schnee, aber wenigstens kam er jetzt von Nordwesten und traf die Ruderer im Rücken.
Als sich der Nebel ein wenig lichtete, waren sie nur noch fünfzig Faden von der Öffnung entfernt.
»Ich sehe die Stake«, sagte Reid tonlos. »Ein bisschen nach steuerbord, und Sie halten direkt darauf zu, Harry.«
»Da stimmt was nicht«, antwortete Peglar.
»Was ist denn?«, rief der Leutnant nach hinten. Mehrere Matrosen blickten stirnrunzelnd von ihren Rudern zu Peglar auf. Sie sahen nicht nach vorn, da sie dem Bug den Rücken zugekehrt hatten.
»Sehen Sie den Zacken oder Eisbrocken bei der Stake, die ich am Eingang der Fahrrinne ins Eis gebohrt habe?«
»Ja«, erwiderte Little. »Was ist damit?«
»Der war vorher nicht da.«
»Alles zurück, los!«, befahl Little überflüssigerweise, da die Männer bereits zurückruderten. Aber das schwere Walboot hatte so viel Fahrt, dass es weiter auf den Eingang zutrieb.
In diesem Augenblick wandte sich der Eisbrocken zu ihnen um.
48
Goodsir
KING-WILLIAM-LAND
BREITE UNBEKANNT | LÄNGE UNBEKANNT
18. JULI 1848
Aus dem persönlichen Tagebuch
von Dr. Harry D. S. Goodsir:
Dienstag, den 18. Julius 1848
Nun ist es neun Tage her, daß unser Capitain Leutnant Little mit acht Mann in einem Walboot voraus durch die Fahrrinne im Eise sandte, mit dem Befehl, binnen vier Stunden zurückzukehren. Wir anderen brachten über zwey Stunden damit zu, die Schlitten auf die Boote zu laden, und suchten danach noch ein wenig Schlaf zu finden. Ohne die Zelte auszupacken, betteten wir uns in Rennthier-Schlafsäcken und Decken auf wasserdichten Segeltuchplanen zur Ruhe, welche neben den Booten auf dem Eise ausgebreitet wurden. Die Tage der Mitternachtssonne waren schon vorüber, und so schliefen wir – oder versuchten es – in den wenigen Stunden annähernder Finsterniß.
Nachdem die uns zugestandene Frist abgelaufen war, weckte der Erste Unterleutnant Des Voeux die Männer. Da jedoch von Leutnant Little noch nichts zu sehen war, gestattete der Capitain den meisten, sich wieder hinzulegen.
Zwey Stunden später endete die Nachtruhe. Während die Boote nach dem Commando des Zweyten Unterleutnants Couch für die Fahrt vorbereitet wurden, versuchte auch ich mich nützlich zu machen, so gut es eben gehen wollte. Als Chirurgus bin ich natürlich stets in Sorge, mir die Hände zu verletzen, wiewohl es ohnehin an dem ist, daß sie auf dieser Reise, mit Ausnahme schwerer Erfrierungen und einer Amputation, schon jeden nur erdenklichen Schaden zu erdulden hatten.
So geschah es, daß sieben Stunden nach dem Aufbruch Leutnant Littles, James Reids und Harry Peglars zu ihrer Erkundungsfahrt unser achtzig Anstalten trafen, ihnen nachzufolgen. Aufgrund der Bewegungen im Eise und sinkender Temperaturen hatte sich die Fahrrinne in den wenigen Stunden unseres
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