Terror
Stunden der Dunkelheit kam es näher, und untertags versteckte es sich unter dem Eis oder irgendwo anders. Wenn sie es anlockten, würde es sich bestimmt weiter heranwagen. Aber sie hatten kein frisches Fleisch, und jedes erlegte Wild würden die Männer selbst verschlingen, statt es als Köder zu verwenden.
Doch gerade deswegen ging Crozier der Gedanke an das Wesen nicht aus dem Kopf. Er erinnerte sich sehr gut an die unglaubliche Größe des Ungeheuers, dessen Fleisch und Muskeln bestimmt eine Tonne schwer waren, wenn nicht sogar mehr. Schon die großen männlichen Polarbären wogen bis zu eintausendfünfhundert Pfund, und sie sahen neben dem Wesen aus wie
Jagdhunde neben einem großen Mann. Wenn sie es fertigbringen würden, ihren Mörder zu ermorden, hätten sie für viele Wochen zu essen. Und auf dem mühsamen Marsch würden sie jeden Bissen vom Fleisch der Bestie doppelt genießen.
Wenn Crozier sich des Ausgangs sicher gewesen wäre, hätte er sich selbst als Köder aufs Eis gestellt. Wenn er dadurch nur einigen seiner Leute etwas zu essen verschafft und sie gerettet hätte, hätte er sich als menschlicher Lockvogel hergegeben und sein Leben aufs Spiel gesetzt – in der Hoffnung, dass seine Männer, deren Schussfertigkeit nach dem Tod der letzten Seesoldaten der Terror nicht unbedingt gestiegen war, das Ungeheuer mit vielen Treffern aus ihren Flinten und Büchsen zur Strecke bringen konnten.
Mit dem Gedanken an die Seesoldaten stieg die Erinnerung an den Gefreiten Henry Wilkes in ihm hoch, dessen Leiche sie vor einer Woche in einem der aufgegebenen Boote zurückgelassen hatten. Die Männer hatten sich nicht eigens versammelt, nur Crozier, Des Voeux und einige engere Freunde der Seesoldaten hatten vor der Morgendämmerung noch ein paar Abschiedsworte gesprochen.
Wir hätten Wilkes’ Leiche als Köder nehmen sollen , dachte Crozier ganz unten auf dem Boden des schwankenden Walboots. Rings um ihn her lagen dicht aneinandergedrängt die Schlafenden.
Dann fiel ihm – nicht zum ersten Mal – ein, dass sie einen frischeren Köder dabeihatten. David Leys war nur noch eine Bürde für die anderen, eine Bürde, die sie seit vier Monaten wie einhundertdreißig Pfund schmutzige Wäsche im Boot durch die Gegend zerrten. Seit jener Dezembernacht des vergangenen Jahres, in der das Wesen Jagd auf den Eislotsen Blanky gemacht hatte, starrte Leys ins Nichts und war für keine Eindrücke von außen mehr empfänglich. Trotzdem schaffte er es, jeden Morgen seinen Löffel gezuckerten Tee und jeden Nachmittag seinen Salzfleischbrei und seine Rumration hinunterzuschlürfen.
Es sprach für die Männer, dass keiner – nicht einmal die Aufrührer Hickey und Aylmore – vorgeschlagen hatte, Leys oder einen der anderen Kranken zurückzulassen. Aber bestimmt hatten alle schon den gleichen Gedanken gehabt …
Man kann sie doch essen.
Zuerst Leys und dann die anderen, sobald sie sterben.
Crozier war so hungrig, dass er sich wirklich vorstellen konnte, Menschenfleisch zu essen. Noch hätte er keinen Menschen getötet, um ihn zu verzehren, doch wenn sie ohnehin schon tot waren, warum sollte man all das Fleisch zum Verfaulen in der arktischen Sommersonne liegen lassen? Oder noch schlimmer: damit sich das Wesen, das sie verfolgte, daran gütlich tat?
Vor vielen Jahren hatte Crozier als frischgebackener Leutnant die wahre Geschichte der Erlebnisse Kapitän Pollards auf der US-Brigg Essex im Jahr 1820 gehört. Inzwischen war sie ein fester Bestandteil der Erziehung, die ein Schiffsjunge vor dem Mast genoss.
Wie die Überlebenden später berichteten, war die Essex in einer besonders verlassenen Gegend des Pazifiks von einem fünfundachtzig Fuß langen Pottwal gerammt worden und gesunken. Zu diesem Zeitpunkt war die gesamte zwanzigköpfige Mannschaft mit den Booten auf Waljagd gewesen. Als sie zurückkehrten, stießen sie auf ihr unrettbar verlorenes Schiff. Nachdem sie noch einiges Werkzeug, Navigationsgeräte und eine Pistole von Bord geholt hatten, fuhren die Seeleute mit drei Walbooten weiter. Ihr einziger Proviant waren zwei lebende Schildkröten, die sie auf den Galapagosinseln gefangen hatten, zwei Fässer Schiffszwieback und sechs Fässer Trinkwasser.
Sie hielten Kurs auf Südamerika.
Zuerst töteten sie natürlich die großen Schildkröten und tranken ihr Blut, als das Fleisch verzehrt war. Dann fingen sie mehrere fliegende Fische, die ihnen zufällig ins Boot sprangen. Während
das Schildkrötenfleisch noch halbwegs
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