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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Zweimal spießt er sich fast an spitz aufragenden Eisdolchen auf, ehe er die letzten acht Fuß nach unten stolpert und rutscht, wo Evans auf ihn warten wollte.
    Aber Evans ist verschwunden.
    Die Baker-Büchse liegt im Schnee, der Hahn immer noch halb gespannt. Der wirbelnde Schnee zeigt keine Spuren, weder menschliche noch andere.
    »Evans!« Kapitän Francis Rawdon Moira Croziers Stimme ist seit fünfunddreißig Jahren im Befehlen geübt. Er kann sich in einem Südwester Gehör verschaffen, und auch wenn sich ein Schiff im Eissturm durch die Magellanstraße kämpft. Jetzt legt er alle Kraft, die er aufbieten kann, in seinen Ruf: »Evans!«
    Nur der heulende Wind antwortet ihm.
    Crozier hebt die Büchse auf, überprüft das Zündpulver und feuert in die Luft. Selbst ihm erscheint der Knall gedämpft, doch plötzlich bewegt sich Hodgsons Laterne auf ihn zu. Aus der Richtung der Terror ist jetzt der schwache Schein von drei weiteren Lampen auf dem Eis zu sehen.
    Dann ein Brüllen, keine zwanzig Schritt von ihm entfernt. Es könnte der Wind sein, der sich einen neuen Weg durch zerklüftete Eiszinken bahnt, aber Crozier weiß es besser.
    Er stellt die Laterne ab und wühlt wild in seiner Tasche herum, bis er den Revolver zu fassen bekommt. Mit den Zähnen
reißt er sich den Fäustling herunter und hat jetzt nur noch die dünne Wollschicht seines Handschuhs zwischen seiner Haut und dem Metallabzug.
    »Komm her, du verfluchtes Höllenvieh!« Croziers Stimme überschlägt sich. »Komm raus und nimm es mit mir auf statt mit einem Jungen, du haarige, arschleckende, rattenschändende Ausgeburt einer pockennarbigen Highgate-Hure!«
    Doch nur der heulende Wind antwortet ihm.

6
Goodsir
    74°43′28′′ NÖRDLICHE BREITE | 90°39′15′′ WESTLICHE LÄNGE
BEECHEY-INSEL, WINTER 1845 / 46
     
     
     
    Aus dem persönlichen Tagebuch
von Dr. Harry D. S. Goodsir:
     
     
    Den 1. Januar 1846
    Am frühen Morgen des heutigen Neujahrstages verstarb John Torrington, Oberheizer auf der HMS Terror. Mit dem neuen Jahr bricht der fünfte Monath unserer Gefangenschaft hier im Eise vor der Beechey-Insel an.
    Torringtons Tod kam nicht überraschend. Seit vielen Wochen stand fest, daß er sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Schwindsucht befand, als er sich zu unserer Expedition meldete. Hätten sich seine Symptome im Spätsommer nur um ein weniges früher kundgethan, wäre er auf der Rattler oder gar noch auf den zwey Walfängern nach Hause gesandt worden, welche uns begegneten, ehe wir nach Westen durch die Baffin-Bucht und den Lancaster-Sund in die arctische Ödniß segelten, in welcher wir nun zu überwintern genöthigt sind. Es ist eine traurige Ironie des Schicksals, daß Torrington nur auf den Rath seines Arztes hin zur See gefahren ist, welcher sich davon eine Stärkung seiner Gesundheit versprach.

    Da der Oberheizer zur Besatzung der Terror gehörte, wurde er selbstverständlich von Dr. Peddie und seinem Assistenten Dr. MacDonald behandelt, aber ich war des öfteren anwesend, als sie den Patienten untersuchten. Auch heute wurde ich von mehreren Männern der Erebus hinübergeleitet, nachdem der junge Heizer seinem Leiden erlegen war.
    Als seine Krankheit früh im November offenbar ward, entband Capitain Crozier den Zwanzigjährigen von seinen Pflichten als Heizer auf dem untersten, erbärmlich schlecht gelüfteten Deck – der Kohlenstaub dort reicht beinahe hin, um selbst einen Mann mit gesunder Lunge zu ersticken. Danach hat sich der schwindsüchtige Zustand John Torringtons stetig verschlimmert. Dennoch hätte der junge Patient wohl noch viele Monathe zu leben gehabt, hätte nicht ein drittes Agentium seinen Tod beschleunigt. Dr. Alexander MacDonald berichtet mir, daß Torrington, welcher auf Grund seiner zunehmenden Schwäche nicht einmal mehr auf dem Unterdeck einige Schritte zu thun vermochte, am Weihnachtstage an einer Pneumonie erkrankte und danach als Moribunder an sein Lager gefesselt war. Als ich heute morgen seinen Leichnam sah, erschrak ich über dessen ausgemergelte Verfassung. Sowohl Peddie als auch MacDonald erklärten mir, daß sein Appetit in den letzten zwey Monathen zusehends geschwunden sey, und obwohl ihm die beiden Schiffsärzte eine Kost aus Büchsensuppe und -gemüse verordneten, hatte er immer mehr abgenommen.
    Am Morgen wurde ich Zeuge, wie Peddie und MacDonald den Leichnam präparirten. Torrington lag in einem sauberen gestreiften Hemde, das Haar sorgfältig geschnitten, die Nägel blank.

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