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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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kann er die Männer im Rettungslager womöglich noch rechtzeitig warnen, ehe Hickey, Manson, Thompson und Aylmore auch dort auftauchen und weiteren Schaden anrichten.

    Crozier gelingt es, den Kopf und die Schultern um ein paar Zoll zu heben, doch er ist viel zu schwach, um unter den Fellen herauszuschlüpfen oder gar nach vorn zum Zelteingang zu kriechen. Er schläft wieder ein.
    Irgendwann später weckt ihn Silence auf. Er weiß nicht, ob es noch derselbe Tag ist und ob sie inzwischen mehrmals draußen war. Noch immer dringt trübes Licht durch die Rentierhäute, und das Innere des Zelts wird von den gleichen Tranlampen erhellt. In der Schneenische im Boden, die Silence für ihre Lebensmittelvorräte benutzt, liegt ein frisches Stück Robbenfleisch. Crozier sieht, dass sie ihren schweren Anorak ausgezogen hat und nur noch eine kurze Hose mit der Pelzseite nach innen trägt. Die weiche Außenseite des Fells hat eine hellere Farbe als Silence’ Haut.
    Plötzlich tanzt wieder die Schnur zwischen ihren Fingern. Diesmal erscheint zuerst das kleine Tierbild neben ihrer linken Hand. Dann wird der Faden gelockert, neu geschlungen, und in der Mitte tritt das Muster der Kuppelspitze hervor.
    Crozier schüttelt den Kopf. Er hat nichts verstanden.
    Silence wirft das Fadenspiel in die Schale. Dann nimmt sie ihr kurzes, gebogenes Messer mit dem Elfenbeingriff, der aussieht wie der Griff eines Marlspiekers, und schneidet das Stück Robbenfleisch auf.
     
     
    »Ich muss zu meinen Männern«, flüstert Crozier. »Du musst mir helfen, dass ich zu meinen Männern komme.«
    Silence blickt ihn an.
    Der Kapitän weiß nicht, wie viele Tage seit seinem ersten Erwachen vergangen sind. Er schläft sehr viel. In den wenigen wachen Stunden schlürft er seine Suppe, isst Robbenfleisch, das ihm Silence nicht mehr vorkauen muss, das sie ihm aber immer noch an die Lippen hält, wird von ihr gewaschen und bekommt neue
Umschläge. Crozier empfindet es als unendlich beschämend, dass er seine Notdurft mit Hilfe einer Goldner-Büchse verrichten muss, die im Schnee steckt und durch einen Spalt zwischen den Schlafdecken unter ihm erreichbar ist, und dass das Mädchen diese Dose regelmäßig hinausträgt, um sie irgendwo auf dem Eis zu entleeren. Es ist auch keine Erleichterung für ihn, dass der Inhalt der Büchse schnell gefriert und kaum stinkt, weil es im Zelt ohnehin schon so stark nach Fisch, Robbenfleisch und Schweiß riecht.
    »Du musst mir helfen, dass ich zu meinen Männern komme«, krächzt er abermals. Er ist sich fast sicher, dass sie nicht weit von der Polynja sind, wo ihm Hickey aufgelauert hat. Und von dort sind es keine zwei Meilen zum Rettungslager.
    Er muss die anderen warnen.
    Es verwirrt ihn, dass das Licht im Zelt immer gleich ist, wenn er munter wird. Vielleicht wacht er aus einem Grund, den ihm nur Goodsir erklären könnte, stets in der Nacht auf. Vielleicht betäubt ihn Silence mit ihrer Robbenblutsuppe, damit er untertags schläft. Damit er nicht flieht.
    »Bitte«, flüstert er. Er kann nur hoffen, dass die Wilde in den Monaten auf der HMS Terror ein wenig Englisch gelernt hat. Dr. MacDonald hat bei seiner Untersuchung festgestellt, dass Silence zwar keine Zunge zum Sprechen hat, aber ganz normal hört. Auch Crozier beobachtete manchmal in der Zeit, als sie zu Gast an Bord war, wie sie bei einem lauten Geräusch zusammenschrak.
    Immer noch starrt ihn Silence an.
    Sie ist nicht nur eine Wilde, sondern auch schwachsinnig. Es hat keinen Zweck, sie um irgendetwas zu bitten. Er muss weiter essen und sich erholen, um Kräfte zu sammeln. Dann kann er sie eines Tages beiseitestoßen und selbst zum Lager marschieren.
    Silence blinzelt und wendet sich ab, um ein Stück Robbenfleisch auf ihrem kleinen Trankocher zuzubereiten.

     
     
    Eines Tages – es könnte auch Nacht sein, da das Licht schwach ist wie immer – erwacht er und sieht, dass Silence wieder mit dem Fadenspiel vor ihm kniet.
    Das erste Bild zeigt die kleine Kuppelspitze. Ihre Finger tanzen. Zwei senkrecht geschlungene Formen erscheinen, die aber nicht mehr vier Beine oder Flossen haben, sondern nur zwei. Sie zieht die Arme weiter auseinander, und nun bewegen sich die Gestalten mit zuckenden Schlingenbeinen von der rechten auf die linke Hand zu. Mit fliegenden Fingern löst sie das Muster auf, und wieder erscheint in der Mitte die Kuppelform, die sich aber irgendwie verändert hat. Die Spitze ist verschwunden, und die Kuppel hat nun eine Katenoidenform, wie er sie

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