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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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holt sie erneut Wasser und schüttet es über die Schlammschicht, um einen Eisbelag zu erzeugen. Zuletzt sprüht sie mit dem Mund Wasser auf einen Streifen Bärenhaut und reibt mit diesem die Kufen über die ganze Länge ab, bis das Eis vollkommen glatt ist. Im Sternenlicht sieht es für Crozier aus, als wären die Kufen mit Glas überzogen.
    Silence stellt den Schlitten richtig herum hin, um die Riemen und Knoten zu prüfen und die fest vertäuten Rentiergeweih- und Elfenbeinstücke mit ihrem Gewicht zu belasten. Dann lascht sie am hinteren Ende des Schlittens als eine Art Griffe zwei längere, gebogene Geweihstücke fest, die vorher als Hauptstützen für das Zelt gedient haben.
    Schließlich breitet sie mehrere Schichten aus Robben- und Bärenfellen über die Querstreben und tritt zu Crozier, um ihn hochzuziehen und ihm zum Schlitten zu helfen.
    Er schüttelt ihren Arm ab und versucht, allein zu gehen.
    Er muss wohl mit dem Gesicht nach vorn in den Schnee gestürzt sein, aber genau weiß er es nicht, denn sein Hör- und Sehvermögen kehrt erst – und nur ganz allmählich – zurück, als ihn Silence auf den Schlitten hievt, seine Beine gerade ausrichtet, seinen Rücken fest an die aufeinandergestapelten Pelze vor den Haltegriffen drückt und mehrere dicke Decken über ihn breitet.
    Vorn am Schlitten hat sie lange Lederriemen festgebunden und deren Enden zu einer Art Geschirr zusammengeschlungen, das um ihre Hüfte führt. Plötzlich muss er an ihr Fadenspiel denken und erkennt nun, was sie ihm sagen wollte: das Zelt (die Kuppelspitze) wird abgebaut, sie ziehen weg (die zwei sich bewegenden Gestalten in dem Bild, obwohl Crozier an diesem Tag
sicher nicht gehfähig ist) zu einer anderen Kuppel ohne Spitze. (Ein anderes Zelt? Ein Schneehaus?)
    Nachdem alle zusätzlichen Felle, Segeltuchbeutel, eingewickelten Töpfe und Robbenöllampen um und auf Crozier verstaut sind, stemmt sich Silence in das Geschirr und zieht den Schlitten übers Eis.
    Die Kufen gleiten still und leicht dahin, wie er es bei den Bootsschlitten der Terror und der Erebus nie erlebt hat. Fast ein wenig erschrocken stellt er fest, dass ihm immer noch warm ist. Nach zwei Stunden Sitzen auf der Eisscholle ist nur seine Nasenspitze kalt.
    Über ihnen hängt eine durchgehende Wolkendecke. In keiner Himmelsrichtung ist am Horizont ein Sonnenaufgang zu erahnen. Crozier hat keine Vorstellung, wohin ihn die Frau bringen will. Zurück nach King-William-Land? Nach Süden zur Adelaide-Halbinsel? Zu Backs Fluss? Weiter hinaus aufs Eis?
    »Meine Männer«, bringt er mühsam schnarrend hervor. Er strengt sich an, um sich im Jammern des Windes und Ächzen des Eises Gehör zu verschaffen. »Ich muss zurück zu meinen Männern. Sie suchen bestimmt schon nach mir. Madame … Lady Silence, bitte. Um Gottes willen, bring mich bitte zurück zum Rettungslager.«
    Silence dreht sich nicht um. Er sieht nur die Rückseite ihrer Kapuze, deren weiße Pelzkrause im schwachen Licht der Sterne matt schimmert. Ihm ist unerklärlich, wie sie sich bei dieser Dunkelheit so sicher fortbewegen kann und woher sie die Kraft nimmt, um ihn samt dem Schlitten mit solcher Leichtigkeit zu ziehen.
    Still gleiten sie davon, hinein in die Finsternis der zerklüfteten Eiswüste.

62
Crozier
    S o lebt Sedna unten am Meeresgrund und entscheidet darüber, ob sie die Robbe nach oben schickt, damit andere Tiere und die Echten Menschen Jagd auf sie machen können. Doch eigentlich ist es die Robbe, die entscheidet, ob sie sich töten lassen will oder nicht.
    Und in gewisser Weise gibt es auch nur eine Robbe.
    Wie die Echten Menschen besitzen Robben zwei Geister: einen Lebensgeist, der mit dem Körper stirbt, und einen unvergänglichen Geist, der zum Zeitpunkt des Todes aus dem Körper entweicht. Diese unvergängliche Seele, die inua, versteckt sich als kleine Luftblase im Darm der Robbe und hat die gleiche Gestalt wie diese, nur dass sie viel kleiner ist.
    Wenn eine Robbe stirbt, verlässt der unvergängliche Geist den Körper und kehrt unverändert in einem Neugeborenen wieder. Dieses Neugeborene ist der Nachfahre der Robbe, die beschlossen hat, sich erlegen und essen zu lassen.
    Die Echten Menschen wissen, dass ein Jäger im Lauf seines Lebens viele Male dieselbe Robbe, dasselbe Walross, denselben Bären und denselben Vogel tötet.
    Nicht anders verhält es sich mit dem unvergänglichen Geist
eines Echten Menschen, wenn sein Lebensgeist mit dem Körper stirbt. Die inua reist mit all ihren

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