Terror
dem drei Vogelkrallen befestigt sind. Mit diesem seltsamen kleinen Gerät scharrt sie so leicht am Eis über dem Atemloch, dass er es aus wenigen Schritten Entfernung nicht hören kann. Aber die Robbe scheint es sehr gut zu hören, und selbst wenn sich das Tier gerade bei einem anderen Atemloch aufhält, das vielleicht Hunderte von Faden weit weg ist, wird es irgendwann von seiner verhängnisvollen Neugier überwältigt.
Allerdings hat Crozier keine Ahnung, wie Silence die Robbe gut genug sehen kann, um sie mit der Harpune zu treffen. Im Sommer, im Spätfrühling oder im Herbst wäre vielleicht der Schatten des Tieres unter dem Eis oder seine Nase unter der winzigen Atemöffnung erkennbar. Aber bei Sternenlicht? Wenn ihre kleine Warnvorrichtung aus Knochen erzittert, kann die Robbe doch schon längst wieder in die Tiefe entschwunden sein. Riecht Silence das Tier, wenn es nach oben steigt? Oder spürt sie es auf eine andere Weise?
Weil er auf der Rentiermatte eher liegt statt sitzt, döst er ein und ist schon ganz durchfroren, als er jäh eine Bewegung wahrnimmt. Er hat noch nicht einmal die Augen aufgeschlagen, da hat Silence schon die Harpune vom Geweih genommen und direkt nach unten in das Atemloch geschleudert. Dann lehnt sie sich zurück und zieht mit aller Kraft an der dicken Leine, die im Eis verschwindet.
Obwohl sein linkes Bein furchtbar schmerzt und ihn nicht tragen will, rappelt sich Crozier hoch und hinkt zu ihr, so schnell er kann. Er weiß, dass jetzt einer der schwierigsten Teile der Robbenjagd kommt: Man muss das Tier nach oben ziehen, bevor es die mit Widerhaken versehene Knochenharpune abschütteln kann, falls es nur verletzt ist, oder bevor es sich im Eis verfängt oder in die Tiefe gleitet, falls es tot ist. Größte Eile ist geboten, wie es bei der Royal Navy immer hieß.
Zusammen zerren sie das schwere Tier nach oben. Silence hält mit einem überraschend starken Arm die Leine, während sie mit dem Messer in der anderen Hand ins Eis hackt, um das Loch zu vergrößern.
Die Robbe ist tot und unglaublich glitschig. Ihre rasiermesserscharfen Krallen meidend, schiebt Crozier die Hand unter den Ansatz einer Flosse und zieht kräftig, um das tote Tier aufs Eis zu hieven. Erleichtert darüber, dass er nicht mehr stillhalten muss, ächzt und flucht und lacht er ununterbrochen. Silence dagegen bleibt natürlich bis auf ihren zischenden Atem stumm.
Als das Tier auf dem Eis liegt, tritt er zurück, weil er weiß, was jetzt folgt. Die Robbe ist im schwachen Sternenlicht, das durch die tiefliegenden Wolken blinzelt, kaum zu sehen. Ihre schwarzen Augen blicken starr und fast ein wenig vorwurfsvoll drein, und aus dem offenen Maul sickert ein dünner, schwärzlicher Blutfaden auf den blauweißen Schnee.
Immer noch leicht keuchend von der Anstrengung, lässt sich Silence auf das Eis sinken, bis sie mit dem Gesicht neben den Kopf der toten Robbe zu liegen kommt. Crozier macht einen weiteren Schritt zurück. Seltsamerweise fühlt er sich in diesem Augenblick genauso wie damals als Junge in Memo Moiras Kirche.
Silence zieht ein kleines Elfenbeinfläschchen unter ihrem Anorak hervor und schüttet sich daraus ein wenig Wasser in den Mund. Sie hat das Fläschchen auf der nackten Haut unter dem
Pelz aufbewahrt, damit das Wasser nicht gefriert. Sie beugt sich vor und drückt ihre Lippen auf die der Robbe, als wollte sie ihr einen Kuss geben. Sogar den Mund öffnet sie dabei, so wie es Crozier auf vier Kontinenten bei den Huren erlebt hat.
Nur dass sie keine Zunge besitzt.
Sie lässt das Wasser aus ihrem Mund in den der Robbe fließen.
Wenn die unvergängliche Seele der Robbe, die noch nicht völlig aus diesem Körper entwichen ist, Gefallen findet an der Schönheit und Gediegenheit der Harpune und der Elfenbeinspitze, die sie getötet haben, wenn sie Gefallen findet an Silence’ Heimlichkeit, Geduld und ihrer ganzen Jagdweise, und vor allem wenn sie das Wasser aus ihrem Mund genießt, dann wird sie den anderen Robbenseelen raten, zu dieser Jägerin zu kommen, um ihr frisches, klares Wasser zu trinken.
Crozier hat keine Ahnung, woher er das weiß. Silence hat es ihm nie mit ihren Fäden oder anderen Gebärden angedeutet. Dennoch weiß er, dass es so ist – als wäre diese Erkenntnis den Kopfschmerzen entsprungen, die ihn jeden Morgen plagen.
Nach dem Ritual steht Silence auf und streift sich den Schnee von Hose und Anorak. Sie sammelt ihre kostbaren Geräte und die Harpune auf, dann schleppen sie die Robbe
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