Tesarenland (German Edition)
dass er das wirklich getan hat. Wie kann er mit Kaylas Leben so leichtfertig umgehen? Meine Brust fühlt sich ganz eng an. Ich wische meine Wangen mit dem Saum meines Pullovers trocken. Am liebsten würde ich schreien, auf irgendwas einschlagen. Ja, ich würde meine Fäuste gerne auf Lucas durchtrainierte Brust niedersausen lassen. Hat man ihn das gelehrt in seiner Rebellenstation? Hat man ihm beigebracht, ein unschuldiges Mädchen einfach so sterben zu lassen? Das ist nicht der Luca, den ich in den letzten Tagen kennengelernt habe. Der Luca, der die Menschen beschützt, die ihm wichtig sind, und auch die, die er gar nicht kennt. Oder doch? Glaubt er, er müsste jemanden vor meiner Schwester beschützen?
Ich lasse mich neben Kayla nieder und drücke ihr einen feuchten Lappen auf die Stirn. Mit einem anderen Lappen tupfe ich ihr das Blut aus den Mundwinkeln. Ein paar wenige Schlucke Tee kann ich ihr einflößen, bevor sie zurück auf die Matratze sinkt. Ich bin mir nicht sicher, ob sie nur schläft, vielleicht ist sie auch bewusstlos. Ich bin mir nur sicher, wenn Kayla nicht bald Hilfe bekommt, dann stirbt sie. Ihr geht es noch viel schlechter als Vater damals. So schlecht, dass sie die Symptome nicht mehr einfach so überspielen kann.
Man kann fast zusehen, wie es ihr von Stunde zu Stunde schlechter geht. Ihre Haut ist grau, die Wangen eingefallen. Ihre Brust hebt sich nur noch wenig, wenn sie einatmet. Und dieses Heben sieht nicht so aus, wie es aussehen sollte. Es sieht aus, als würde sie jeder Atemzug Kraft kosten. Eine Kraft, die sie nicht mehr hat. Ihre Atemzüge gehen unregelmäßig. Manchmal sind die Pausen zwischen den einzelnen Zügen so groß, dass ich sie aus Angst fast rütteln möchte, damit sie wieder Luft holt. Wenn Mutter hier wäre, sie wüsste, was zu tun ist.
»Warum hilfst du mir nicht? Ich darf sie nicht verlieren!«, rufe ich in die Stille. Aber ich weiß, dass keine Antwort kommen wird. Dieses Mal wird sie mir nicht helfen können. Sie wird mir nie wieder helfen können. Wenn ich Kayla retten will, dann muss ich alleine handeln, dann muss ich mir selbst etwas einfallen lassen.
Mein Blick fällt auf das Funkgerät, das stumm in der Ecke auf einem Tisch steht. Es unterscheidet sich kaum von dem in Williams Keller. Ich presse die Kiefer fest aufeinander, meine Zähne knirschen. Warum eigentlich nicht, sage ich mir. So schwer kann das doch nicht sein? Langsam stehe ich von Kaylas Bett auf, sie stöhnt leise, als sich die Matratze bewegt. Ich warte zögernd neben ihr, aber sie schläft schon wieder.
Ich mustere das schwarze Gerät, während ich mich langsam nähere. Da sind sechs verschiedene Knöpfe und Regler. Roland hätte uns ruhig sagen können, dass die Dinger alle unterschiedlich aussehen, dann hätte ich besser aufgepasst, als er Kayla erklärt hat, wie die Geräte funktionieren. Ich muss lächeln, als ich daran denke, wie sie Roland ein Loch in den Bauch gefragt hat. Roland hat bei jeder Frage mit den Augen gerollt, aber er hat sie alle beantwortet. Dafür hat Kayla ihm dann den Verband um die Bisswunden gewechselt, so wie Mutter es ihr gezeigt hat.
Und sie hat die ganze Zeit über geschimpft, weil sie fand, Rebellen, die ihr Leben riskieren, um die Tesare zu ärgern, müssten wissen, wie man richtige Verbände anlegt. Aber Kayla hat es auch nur gewusst, weil Mutter ihr einmal den Arm hatte verbinden müssen, nachdem sie vom Dach unserer Hütte gestürzt war und sich üble Schürfwunden zugezogen hatte. Sie war stolz gewesen, weil sie Roland etwas beibringen und sich so für seine Hilfe revanchieren konnte. Sie hat leider nicht gewusst, dass Roland ihr in den Rücken fallen würde.
Der Stuhl, der vor dem Funkgerät steht, wackelt gefährlich. Ich setze mich trotzdem darauf und fange an, an den Knöpfen und Reglern herumzudrehen. Das Gerät bleibt stumm. Ich beuge mich näher über den schwarzen Kasten, der fast den ganzen kleinen Tisch einnimmt. Unter den Reglern sind Bilder und Buchstaben. Zum ersten Mal bereue ich es, dass ich mich geweigert habe, Lesen zu lernen.
»Verdammt«, fluche ich leise und klopfe mit der Faust auf die dunkle, rissige Tischplatte.
Mit den Fingern reibe ich über meine Stirn und versuche, mich zu erinnern, was Roland gesagt hat. Wenn ich nur besser zugehört hätte. Gefrustet schalte ich noch einmal an ein paar Knöpfen, drücke Tasten, der Kasten bleibt stumm. Kein Rauschen, keine fremden Stimmen dringen heraus, einfach Nichts.
»Als Erstes musst du
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