Tessa
schlechte Haltung, ungepflegtes Haar, suchend sieht er sich um, aber läuft in die falsche Richtung. Sie reckt sich nach vorn, um ihn besser beobachten zu können, dabei muss sie sich an der Banklehne festhalten. Entsetzt zuckt sie mit ihrer Hand zurück, weil sie in etwas Feuchtes gefasst hat. Langsam dreht sie die Handfläche und erblickt Rotz an den Fingern. Ihr wird übel. Sie versucht, ihn an der Bank abzuwischen, streift immer wieder die Finger über die Sitzfläche, bis sich die Hand trocken anfühlt. Nicht hysterisch werden, sie wird es vergessen, und dieses widerliche Gefühl wird vergehen. Als ihre U-Bahn einfährt, entdeckt sie den Junkie mit einem kleinwüchsigen, arabisch aussehenden Dealer, der aber vielleicht auch nur ein Kind ist, doch sie hat das Interesse verloren. Gleichgültig steigt sie in die Bahn ein.
Laute Discomusik hämmert aus den Boxen. Das rosa, blaue, gelbe Licht blitzt und flackert und taucht den Raum in warme Farben. Sie bewegt sich nicht, steht etwas abseits, nicht an die Wand gelehnt, denn das lädt die meisten Männer ein, sich dazuzustellen, so ist sie wendiger. Die Luft ist stickig, und sie spürt die Körperwärme der Tanzenden. Wie eine Statue steht sie da, denkt sie zumindest. Sie trägt ein weißes Kleid, nur der eine Arm ist mit wenig Stoff bedeckt, der andere nackt. Kurz. Eng an den Beinen, aber lässig leger in der Bauchgegend. Vorteilhaft. Die Pillen machen dick, wenn man dem Alkohol nicht abgeneigt ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie schon achtundzwanzig ist. Der Champagner knallt nicht. Sie muss an Nick denken. Ob er wohl jetzt mit dieser Freundin Arm in Arm auf dem Sofa liegt, um sich seinen Film anzuschauen? Einen kurzen Augenblick ist sie versucht, ihn anzurufen. Welcher Film eigentlich? Der einzige Film, den er meinen kann, ist ein Kurzfilm, den er für die Filmhochschule gemacht hat, und ihn Film zu nennen, ist eher übertrieben. Ein hochambitioniertes Werk, das nicht einmal fünf Minuten lang ist. Einen kurzen Moment hat sie das Gefühl, doch die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Der Gedanke, ihn anzurufen, verschwindet wieder. Was für eine miese Beziehung. Nächsten Monat wären sie ein Jahr zusammen.
Sie sieht sich nach Charlotte um, die sie an der Bar entdeckt, wo sie sich mit einem Typen unterhält. Eine Hostess, im schwarzen Hemd mit schwarzer Krawatte, kommt mit einem Tablett an ihr vorbeigelaufen, sie greift sich ein weiteres Glas, versucht sich durch die Menge zu schieben. Sie macht sich schmal, um in so wenig Körperkontakt wie möglich zu kommen.
Ein Mann drängt sich dicht an ihr vorbei, der Blick starrend, nicht auf sie gerichtet, eher ins Leere oder tief in sich hinein und anscheinend genauso bedacht, nicht in Berührung zu gelangen wie sie selber. Er ist blond, hat etwas Jungenhaftes, Interessantes, schon etwas älter, vielleicht um die vierzig und seltsam in sich gekehrt. Und Tessas Aufmerksamkeit ist voll auf ihn gerichtet.
Sie stellt sich ihm in den Weg. »Wie heißt du?«, fragt sie und hält ihn am Ärmel fest.
»Wie bitte?« Erschrocken fährt er herum. Blaue Augen unter dichten, langen Wimpern starren sie an, aber nur sehr kurz, dann hat er seinen Blick wieder abgewandt, und er will weiter, doch sie versperrt ihm den Weg. Stellt sich dicht vor ihn, schaut ihm ins Gesicht.
»Entschuldigung, darf ich?«, fragt er.
»Nein.« Sie lacht ihn an. »Ich habe gefragt, wie du heißt.«
»Ich? Jochen.«
»Echt?« Sie sieht ihn enttäuscht an, aber ihr Gesicht erhellt sich kurz darauf wieder. »Wollen wir zusammen Tabletten nehmen?«, fragt sie.
»Was hast du denn?« Ein leichtes Lächeln umspielt seinen Mund. Und sie hat seine Aufmerksamkeit.
»Ich weiß nicht. Warte.« Sie kramt in ihrer Tasche und fischt eine weiße Tablette, die noch ordentlich in der Plastikverpackung eingeschlossen ist, aus ihrem Beutel, pustet die Tabakkrümel weg, drückt die Pille aus der Folie und steckt sie ihm in den Mund.
Er sieht sie an, sie lächelt, und er schluckt. »Und du?«, fragt er.
»Ich hab schon.«
»Was war das?«
Tessa zuckt mit den Schultern. »Ein Antidepressivum.«
»Macht denn das überhaupt was?«
»Klar«, lacht sie. »Man kriegt davon extreme Lust auf Sex.«
»Toll«, sagt er.
»Frieder?«
»Nein, Jochen.«
»Aber Frieder ist ein wunderschöner Name. Egal.« Sie schlängelt sich um ihn herum. »Was sind Namen? Frieder, ja?«
»Ich mag meinen Namen.«
Sie stellt sich dicht vor ihn. Ihre Lippen berühren sich
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