Tessa
sich nach der Schlafzimmertür um, hört das laute und gleichmäßige Atmen von Uwe. Schnell steckt sie einen Fünfzig-Euro-Schein ein. Sie wird ihn Uwe wiedergeben. Jetzt muss sie nur schnell nach Hause.
Im Taxi. Der morgendliche Berufsverkehr. Stau. Es riecht nach Mundgeruch. Ihr ist schlecht, und sie muss sich konzentrieren, nicht wieder loszukotzen. Sie starrt aus dem Fenster und versucht durch den Mund zu atmen. Scham und Schuld lasten auf ihr, sie will kein Morgen, sie will kein Jetzt. Das Taxi hält eine gefühlte Ewigkeit an einer Ampel. Sie faucht den Fahrer an, ob er das Grün verschlafen hat, doch dieser wirft nur einen mitleidigen Blick in den Rückspiegel. Schnell sieht sie wieder hinaus auf die Straße. Der Wagen hält. Sie reicht ihm die fünfzig Euro. Brummend gibt er ihr das Wechselgeld. Kein Trinkgeld. Auf der Straße blickt sie sich um, sie hofft, Frieders Wagen zu sehen. Aber natürlich wartet er nicht vor ihrer Haustür.
Langsam steigt sie die Treppenstufen ihres Hauses hinauf. Gesäuberter alter Beton. Als sie ihre verlassene Wohnung betritt, sackt sie zusammen. Und ein fremdes Geräusch schwappt aus ihrer Kehle. Ein Heulkrampf. Sie will nicht alleine sein. Frieder. Sie greift nach der achtlos hingeschmissenen Tasche, wühlt nach dem Handy. Es ist kurz nach acht. Er ist bestimmt schon wach. Er muss sie retten. Vielleicht kann er kurz kommen und sie halten. Mit zitternden Händen wählt sie seine Nummer, Freizeichen, doch dann schaltet sich die Mailbox an. Sie legt auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Wählt die Nummer erneut, Freizeichen, und sie betet, bitte geh jetzt ran. Wieder hört sie nur die Mailbox. Sie legt auf. Und wählt die Nummer wieder, Freizeichen. Klick. Besetztzeichen. Sie starrt ihr Handy an. Wählt die Nummer noch einmal, und diesmal geht die Mailbox sofort an. Das Schwein hat sein Telefon ausgestellt. Fassungslos sieht sie auf ihr Handy. Dann schmeißt sie es krachend gegen die Wand. Sie steht auf, keine neuen Tränen. Sie geht ins Badezimmer, stellt sich unter die Dusche. Versucht zu spüren, doch alles in ihr ist tot. Das heiße Wasser prasselt auf ihren Körper. Mit geschlossenen Augen wartet sie auf einen Schmerz, aber sie spürt nichts. Sie dreht den Wasserhahn zu, steigt aus der Badewanne. Das Wasser tropft von ihrem Körper. Auf nassen Füßen geht sie in die Küche. Sie greift die Keksdose und wühlt nach dem Rohypnol. Zögerlich drückt sie eine Tablette aus der Packung. Legt sie beiseite, die Tablette in der Hand. Sie wirft sie in ihren Mund. Kein sauberes Glas für Wasser, sie beugt ihren Kopf über die Spüle. Schluckt die Pille runter. Sie sieht wieder auf die Tablettenpackung. Zögerlich löst sie die zweite. Und wieder beugt sich ihr Kopf zum Wasserhahn. Der Tablettenstreifen mit den restlichen Pillen starrt sie an. Sie spürt ihre Beine schwerer werden. Zwei reichen. Sie wühlt in den Tabletten, entscheidet sich stattdessen noch für zwei Pillen vom Antidepressivum, die doppelte Dosis. Das Lithium lässt sie ausfallen. Sie tritt ihren Rückzug ins Bett an. Noch nass, versucht sie sich einzukuscheln, aber die Bettwäsche fühlt sich fremd und hart an. Ihre Augenlider werden schwer, ihre Gedanken leiser, die Tabletten betäuben vorübergehend ihren Schmerz, und sie gleitet in ein schwarzes Nichts.
Später wacht sie kurz auf, doch nur, um sich zur Seite zu drehen und wieder einzuschlafen. Als sie erneut erwacht, ist es dunkel draußen. Ihr leerer Magen schmerzt. Sie hört die Stille. Sie starrt auf das Muster an ihrer Schlafzimmerwand. Die Stille wird lauter. Sie flüchtet unter die Decke. Nur sie und ihr Atem. Sie will einschlafen, nur bis es wieder hell wird. Oder bis dieses Gefühl verschwunden ist. Leere. Angst kriecht ihren Körper hinauf und setzt sich in ihren Haarwurzeln fest. Die Luft wird stickiger, sie braucht frischen Sauerstoff. Sie stößt die Decke weg. Sie braucht eine Flasche Wein.
Auf dem Boden kramt sie nach ihrer schwarzen Jogginghose. Zieht sich hastig ein T-Shirt und einen Pullover über. Sie steigt über ihr kaputtes Handy im Flur. Nimmt sich das Restliche von Uwes Geld und verlässt das Haus. Es ist kalt draußen, die Luft schneidet, dabei ist es noch immer September. Sie setzt die Kapuze auf und steckt ihre Hände tiefer in die Tasche ihres Pullovers. Sie starrt auf den Asphalt.
Die Glocke über der Tür läutet hell und laut, als sie den Spätkauf betritt. Unzählige Getränkekisten türmen sich in der Mitte des
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