Tessa
zwischen dem dreckigen Geschirr nicht entdecken. Nein. Sie geht wieder zur Flasche, entfernt das Plastik vom Flaschenhals und starrt auf den Korken. Sie nimmt die Flasche in die Hand und setzt sich erst einmal auf den Küchenstuhl. Nachdenken. Ruhig bleiben. Wo hat sie die andere Flasche aufgemacht? Leere in ihrem Kopf. Sie steht wieder auf und schiebt das dreckige Geschirr zur anderen Seite. Irgendwo muss dieser scheiß Korkenzieher ja sein. Vielleicht kann sie den Flaschenhals sauber abschlagen. Nein. Sie wandert in ihrer Wohnung umher. Sie sucht unter den Kleiderhaufen. Geht von Zimmer zu Zimmer. Sieht sich immer wieder die Flasche an. Vielleicht kann sie den Korken mit einem Besteckgriff reindrücken. Nein. Der Wein schmeckt dann scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße. Wenn sie nur einen Schluck trinken könnte. Im Wohnzimmer bricht sie zusammen, knickt in die Knie, hält die Flasche fest umklammert. Sie beugt sich nach vorne und schlägt ihren Kopf auf den Boden. Warum nur kann sie sich nicht erinnern, wo sie den scheiß Öffner gelassen hat? Sie muss sich zusammenreißen, ruhig bleiben. Sie zwingt sich aufzustehen. Geht wieder in die Küche, stellt sich an die Spüle. Sie versucht sich zu erinnern, aber je mehr sie sich anstrengt, umso weniger Gedanken hat sie in ihrem Kopf. Sie imitiert das Öffnen der Flasche und versucht dabei, ihre Panik und aufsteigende Tränen zu unterdrücken. Sie dreht sich zum Mülleimer, öffnet ihn und entdeckt den Korkenzieher im stinkenden Müll. Den alten Korken muss sie erst einmal abdrehen.
Sie öffnet hastig die Flasche Wein und sieht sich nach ihrem Glas um, hat aber auch wieder vergessen, wo es steht. Blick ins leere Regal. Sie greift nach einem benutzten Glas aus der Spüle, betrachtet kurz den angetrockneten Rotweinrest, der den Boden des Glases bedeckt, bevor sie es vollgießt. Mit dem Glas in der Hand wandert sie ins Wohnzimmer. Setzt sich wieder auf den Teppich und sieht durch die Balkontür hinaus. Draußen ist es dunkel. Im Fensterglas spiegelt sie sich. Sie streicht sich durchs Haar, und ein fettiger Film hinterlässt Spuren auf ihrer Hand. Vielleicht sollte sie in die Badewanne gehen. Sie trinkt einen Schluck. Ein leichtes Ziehen im Magen erinnert sie daran, vorsichtiger zu trinken. Der Wein ist zu sauer für ihren empfindlichen Magen. Sie setzt ihre Kapuze auf und legt sich mit dem Rücken auf den weichen Teppich. Stellt das Glas gegen ihr Bein. Betrachtet ihre Zimmerdecke. Vielleicht sollte sie die Nummer von Jens rauskriegen. Vielleicht kann Jens ihr neuer Freund werden. Er sieht eigentlich nicht schlecht aus, er ist lustig und hat Geld. Sie fühlt sich sicher bei ihm. Vielleicht kann er ihr die Miete borgen. Nur bis sie einen neuen Job hat. Sie greift nach ihrem Glas. Sie könnte versuchen, seine Nummer rauszukriegen. Nick hat sie. Aber Nick will sie nicht fragen. Charlotte. Sie knabbert an ihrer Unterlippe. Greift nach ihrem Glas.
Charlotte. Hatten die beiden nicht ein Date gehabt? Vielleicht sollte sie erst einmal mit Charlotte über Jens reden. Charlotte wird vielleicht sauer sein. Noch etwas Wein. Sie stellt ihr Glas wieder ab. Doch es rutscht weg, und die langen Flokatihaare saugen sich mit Wein voll. Sie springt auf, rennt in die Küche. Sucht nach einem Lappen, doch als sie keinen entdeckt, gibt sie auf. Sie geht zum Küchentisch, greift nach ihrem Tabak und dreht sich eine Zigarette. Es gibt Wichtigeres. Worüber hat sie gerade nachgedacht? Sie greift die Weinflasche, trinkt direkt daraus. Das Denken strengt sie an. Sie schüttelt sich. Charlotte. Ja, Charlotte und Jens. Charlotte wird sie verstehen. Sie kannte Jens auch schon viel früher. Sie hatte die beiden vorgestellt. Oder? Tessa zieht an ihrer Zigarette. Wenn Jens sie glücklich macht, dann wird auch Charlotte glücklich sein. Warum meldet sich Charlotte eigentlich nicht mehr bei ihr? Wegen Tanner. Tanner ist schuld. Oder war da nicht ein verpasster Anruf von ihr? Es ist so schwer nachzudenken. Ein weiterer Schluck Wein.
In der Wohnung ist es dunkel. Tessa wacht auf ihrer Couch auf. Der Mund ist pelzig, die Lippen rau und spröde. Langsam löst sie die Zunge vom Gaumen. Ihre übersäuerten Magenwände schmerzen, und ihr ist übel. Mühsam erhebt sie sich. Ein halb leeres Glas Rotwein steht neben ihr auf dem Boden, sie nimmt es mit in die Küche, schaltet das Licht an und setzt sich an den Tisch. Sie nippt am restlichen Wein, dreht sich eine Zigarette. Und sitzt zusammengesunken auf ihrem Stuhl.
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