Tessa
ist ihr fremd. Sie rollt sich zusammen, umschlingt ihre Beine mit den Armen. Sie spürt einen kalten Luftzug, und Gänsehaut bedeckt ihren Körper. Es verstreichen Minuten, vielleicht Stunden. Sie versucht ins Nichts zu tauchen. Aber ihr Geist ist hellwach. Und flüstert ihr Bedrohliches zu. Sie ist allein. Vor Selbstmitleid fängt sie an zu schluchzen. Aber nach wenigen Minuten gibt sie es auf, ihr fehlt die Kraft und auch die Lust zum Weinen. Sie versucht sich zu entspannen, löst vorsichtig einen Arm und streichelt sanft die langen Haare ihres Flokatiteppichs. Sie spürt die Spitzen in ihrer Handfläche. Sie muss von Frieder loskommen. Frieder ist schuld, dass sie sich so einsam und verlassen fühlt. Sie greift mit der Hand in den Schopf, packt das Haar. Frieder ist schuld, dass sie nicht mehr mit Nick zusammen ist. Sie hätte so glücklich mit Nick werden können. Dieser scheiß Frieder.
Draußen dämmert es. Sie öffnet ihre Handfläche und lässt das Haarbüschel fallen. Hasserfüllt steht sie auf. Sie schleppt sich auf die Couch und schaltet mit der Fernbedienung den Fernseher an. Die vertraute Melodie des Tatorts ertönt. Perfektes Timing, sie zieht sich die Decke über den Körper und kuschelt sich ein.
Eine Leiche wird aus dem Wasser gezogen, der graue deutsche Himmel dominiert das Bild und beginnt sie zu deprimieren. Und als die beiden Kommissare, die sie nicht kennt, sich in ein längeres Gespräch verlieren, verschwindet auch ihre Konzentration. Sie rutscht unruhig auf der Couch umher, bevor sie aufsteht, um ihr Handy zu suchen. Zu ihrer Überraschung sieht sie, dass sie einen Anruf verpasst hat. Sie starrt Charlottes Namen an. Doch die Nacht mit Jens fällt ihr ein, und das schlechte Gewissen umschließt sie. Sie versucht es abzuschütteln. Und ignoriert den Anruf. Sie stöbert in ihren Kontakten. Viele Namen sagen ihr gar nichts. Ein spitzer Schrei aus dem Fernseher erschreckt sie. Sie schmeißt das Handy in die Sofaecke. Starrt wieder auf den Fernseher. Sie ist genervt von einem Dialekt, den sie keinem Bundesland zuordnen kann. Sie schaltet den Ton aus. Schielt wieder auf ihr Handy. Sie greift es erneut, scrollt wieder durch die Namen. Bei Uwes Nummer zögert sie, will weitersuchen, doch nach seinem Namen kommen kaum noch welche. Vielleicht sollte sie Uwe anrufen? Sie könnten einfach nett miteinander eine Flasche Wein trinken. Kein Koks. Nur Wein. Sie wählt seine Nummer.
»Tessa!«, brüllt Uwe lallend in das Telefon. »Schön, dass du anrufst.«
Sie überlegt, einfach wieder aufzulegen. Und dann?
»Kann ich vorbeikommen? Reden.«
»Klar, Baby.«
»Okay, ich komme jetzt. Du machst mir auf, ja?«
»Klar, Baby.«
»Bist du betrunken, Uwe?«
»Bist du verrückt?«
»Bis gleich.«
Als sie aus dem Haus tritt und zu ihrem Fahrrad gehen will, stellt sie fassungslos fest, dass es nicht an seinem Platz steht. Sie sieht sich um. Ein Kloß im Hals. Aufkommende Panik. Sie dreht sich um und marschiert los. Wegblenden. Sie wird es wiederfinden, sicherlich ist es nicht gestohlen worden. Und wenn doch? Sie vergräbt ihre Hände tiefer in die Manteltaschen. Ein dicker Mond hängt über ihr, und vereinzelt funkeln Sterne im dunklen Himmel. Uwe wohnt in Kreuzberg, und obwohl es ein weiter Weg ist, entscheidet sie sich, zu ihm zu laufen.
Sie schreitet über den Alexanderplatz. Vor dem Nebeneingang der Galeria Kaufhof macht es sich ein Penner gemütlich. Sorgsam sortiert er seine fünf Einkaufstaschen neben der Wand, mummelt sich in seinen Schlafsack und versucht dann so eng wie möglich an die Tüten ranzukrauchen. Angeekelt wendet sie sich ab. Auf den Stufen vor Burger King sitzen die Punks. Die Mädchen sind noch jung, keine achtzehn, auch wenn das viele schwarze Make-up darüber hinwegzutäuschen versucht. Eine Flasche Wein wird herumgereicht. Die Hunde spenden Wärme. Etwas abseits sitzen zwei Mädchen mit Brillen, frisch gefärbten schwarzen Haaren und sorgfältig zerrissenen Klamotten und beobachten neidisch das Geschehen.
Hinter dem Alexanderplatz wird die Gegend verlassener. Ihre Absätze klacken hallend auf dem Asphalt. Die breite Straße ist hell erleuchtet. Hochhäuser ragen in die klare Nacht hinauf. Einzelne Autos fahren an ihr vorbei. Aber keine weitere Gestalt auf der Straße. Sie läuft etwas schneller. Auf der Jannowitzbrücke bleibt sie stehen. Sie wirft einen Blick in die dreckige und stinkende Spree. Eine Frau mit rosa Plastikhandschuhen wühlt in dem Mülleimer neben
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