Tessa
Raumes. Sie muss einmal um den Turm herumlaufen, weil eine Ansammlung von Touristen den Kassenbereich großräumig besetzt. Sie passiert die laut summenden Kühlschränke, und ein Sixpack lacht sie freundlich an. Sie schielt auf die gegenüberliegende Seite, und die Weinflaschen hinter der Ladentheke leuchten unverstaubt. Sie entscheidet sich für den Wein. Beim Umrunden der Wasserkästen stößt sie sich ihr Knie. Sie spürt einen kurzen heftigen Schmerz und bleibt am Regal stehen, in dem sich lose aufgereihte Lebensmittel befinden. Durch die geringe Menge wirkt nichts einladend, trostlos liegt die einzelne Packung Toastbrot da. Sie geht weiter. Reiht sich brav hinter den hübschen schwedischen Mädchen ein, jede von ihnen hält eine Flasche Bier in der Hand. Sie hebt ihren Blick zu dem verstaubten Holzregal, begutachtet die Weinflaschen. Orangefarbene Preisschilder helfen ihr bei der Auswahl. Der Wein darf nicht zu billig sein, sonst hat sie morgen unerträgliche Kopfschmerzen, zu teuer aber auch nicht, sonst ist ihr Geld gleich alle. Sie entscheidet sich für einen spanischen Rotwein für fünf Euro, der wird kräftig genug sein. Der Kassierer schaut sie unfreundlich an. Sie kauft noch Tabak und Blättchen und knallt ihm das Geld auf die Theke, dabei sieht sie ihn herausfordernd an.
Langsam geht Tessa zurück nach Hause. Sie muss irgendwas essen, ansonsten kriegt sie den Wein nicht runter. Doch bei dem Gedanken, etwas essen zu müssen, wird ihr übel. Es darf nichts Schweres sein, etwas, was sie leicht runterkriegt. Sie spaziert zur Torstraße. Die Flasche hat Tessa unter ihren Arm geklemmt, Tabak und Blättchen sind in der vorderen Tasche ihres Kapuzenpullovers verstaut. Betrunkene bunt gekleidete Touristen mit kurzen Röcken und nackten Beinen rennen kreischend an ihr vorbei. Sie läuft dicht an der Häuserwand entlang, will nach Hause. Eine Polizeisirene fährt heulend an ihr vorbei, und sie legt schützend die Hände auf die Ohren. Sie verflucht sich dafür, das Toastbrot nicht doch genommen zu haben. Als sie am Dönerladen vorbeikommt, zögert sie nicht lange und geht hinein. Sie entscheidet sich für eine türkische Pizza mit Salat und Knoblauchsoße. Der türkische Imbissverkäufer lacht sie gut gelaunt an und prallt an ihrem versteinerten Gesicht hoffnungslos ab. Sie findet seine Witze nicht komisch und versteht nicht einmal den Sinn. Dennoch bedankt sie sich höflich. Vorsichtig schiebt sie die Aluminiumfolie zur Seite und beißt in den warmen Teig.
Die letzten Bissen schafft sie nicht. Sie muss aufstoßen. Den Abfall wirft sie in den Mülleimer in ihrem Hausflur. Betreten schaut sie ihren Briefkasten an, Reklamezettel ragen raus. Sie wendet den Blick wieder ab, will die Stufen zu ihrer Wohnung hochgehen, stattdessen geht sie die zwei Schritte rückwärts, öffnet den Briefkasten, und eine Unmenge von Briefen fallen ihr entgegen. Sie erkennt den Stempel ihrer Hausverwaltung auf der Post. Auch ihr Stromanbieter ist unter den Absendern. Sogar zwei bunte Umschläge sind dabei, gefährlich aussehend. Sie sortiert die Reklame aus, schmeißt sie in den Müll und stopft die Briefe wieder zurück in den Briefkasten. Nicht jetzt. Sie braucht Geld, vorher kann sie sich sowieso nicht darum kümmern.
Angespannt drückt sie auf den Lichtschalter in ihrem Flur, die Lampe leuchtet auf. Sie ist erleichtert. Noch ist nicht alles zu spät. Sie steigt aus den Schuhen. Wie viele Mieten hat sie nicht mehr gezahlt? Zwei, vielleicht drei? Sie kann sich nicht erinnern. Aber das ist ja nicht so schlimm. Nicht so schlimm. Es gibt Schlimmeres. Warum muss sie sich mit solchen Sorgen herumschlagen? Ihre Gedanken wandern zu Frieder. Sie kickt die Schuhe in die Ecke. Ob er gerade mit seinem T-Shirt durch das gemeinsame Wohnzimmer läuft? Unbekümmert mit seiner Frau spricht? Sie eilt in die Küche, greift sich den Korkenzieher und ein Glas, setzt sich. Und kratzt mit den Fingernägeln die Banderole und das Plastik vom Flaschenhals ab. Sie stellt sich vor, wie Frieder sich neben seine Frau setzt, wie er sie in die Arme nimmt. Ihr Gesicht streichelt. Aufgebracht piekt sie die Spitze des Öffners in den weichen Korken. Sie dreht den Korkenzieher, und mit einem kräftigen Ruck zieht sie den Korken heraus. Plopp. Erleichterung. Sie ist vielleicht nicht gut genug. Will er sie nur ficken? Vielleicht ist sein Leben so scheiß langweilig mit seiner Frau, dass sie für die nötige Aufregung sorgt. Sie schläft bestimmt
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