Tessa
Erschrocken weicht sie zurück. Da kommt der nächste Brechreiz und der nächste Schwall Kotze. Sie schließt die Augen, rutscht weit nach hinten und lehnt sich an die kühlen Fliesen. Der Schmerz in ihrem Brustkorb will hinaus. Sie fängt an zu schluchzen, japst nach Luft, verzieht ihr Gesicht. Tränen laufen über ihre Wangen. Die Nase verstopft. Sie lässt sich seitwärts auf den Boden fallen. Das Erbrochene stinkt, und sie hat Angst, es zu berühren. Irgendjemand muss ihr helfen. Sie kriecht auf allen vieren in den Flur, geschüttelt vom Heulkrampf. Das Akku, die hintere Abdeckung und das Handy liegen verloren auf dem Boden verstreut.
Sie versucht die Verzweiflung zur Seite zu schieben. Sie will verschwinden aus ihrem Körper. Sie braucht ihre Medikamente. Sie muss sie nur richtig nehmen. Regelmäßig nehmen. Dann wird es ihr besser gehen, und dann kann sie sich um ihr Leben kümmern. Sie hockt auf den Knien, und mit zittrigen Händen sammelt sie die Teile ihres Handys auf und versucht sie wieder zusammen zu bauen. Der Boden ist hart und kalt, sie friert. Alles ist anstrengend, sie will ins Bett, vielleicht muss sie noch mehr schlafen. Sie will sterben. Die Teile wollen nicht passen, aber sie muss nur das Handy wieder zusammenbauen, dann wird alles wieder gut. Endlich hat sie es geschafft, sie drückt auf den Knopf, aber das Display leuchtet nicht auf, sie haut das Handy auf den Boden. Versucht noch einmal den Knopf. Wütend entfernt sie erneut die Abdeckung und reißt sich dabei ihren Fingernagel tief ein. Der Nagel hängt, sie reißt das hängende Stück auch noch ab. Ein dumpfer Schmerz. Die ungeschützte weiße Haut färbt sich langsam rosa, der Finger fängt an zu pochen. Sie betrachtet ihre Verletzung, kann den Blick nicht lösen, bis ihr Fuß anfängt einzuschlafen. Langsam legt sie das Handy wieder ab.
An der Wand Halt suchend, zieht sie sich hoch. Sie geht in die Küche und starrt an die Wanduhr. Beide Zeiger stehen auf der drei, was sie verwirrt. Sie greift nach einem Glas, spült es mit den Fingern aus und vergisst dabei ihre Wunde. Der Finger schmerzt, sie zieht die Hände aus dem Wasser. Gießt das Glas voll, trinkt es aus. Trinkt auch noch ein weiteres. Sie ist sich nicht sicher, welcher Wochentag ist, aber sie muss zu ihrem Arzt. Wenn sie nur genug vom richtigen Medikament hat, dann wird alles wieder gut. Sie versucht sich zu erinnern, welcher Wochentag ist, welcher Tag gestern war. Was sie in den letzten Tagen gemacht hat. Wann Wochenende war. Sie hält sich mit beiden Händen den Kopf, doch die Leere kriegt sie nicht weg. Sie geht auf den Balkon und versucht zu erraten, wie sich Menschen bewegen, wenn sie frei haben. Ein Fahrradkurier mit leuchtend gelber Tasche fährt die Straße entlang. Sie ist gerettet, es scheint ein Wochentag zu sein.
Sie geht wieder ins Bad und weicht vor dem Erbrochenen zurück. Der Geruch beißt in ihrer Nase, und wieder muss sie würgen. Sie nimmt eine Rolle Toilettenpapier, wickelt sie großzügig ab. Sie versucht, die Kotze damit aufzuwischen, das Papier weicht durch. Und sie spürt die Kotze an den Handflächen. Würgend schmeißt sie das triefende Papier ins Klo. Anschließend spült sie lange, wäscht sich sorgsam die Hände. Sie starrt in den Spiegel, ihre Lippen sind aufgeplatzt, und Rotweinreste haben sie dunkel verfärbt. Mit dem Fingernagel kratzt sie an den Lippen, reißt Fetzen ab. Ihre Haare sehen fettig aus. Sie nimmt die Haarbürste und kämmt sie ordentlich zur Seite. Sie hat unreine Haut. Sie greift nach der Zahnbürste und putzt sich lange die Zähne. Sie benutzt Seife, um das Gesicht zu säubern, die brennt in den Augen, und als sie in den Spiegel hochschaut, befinden sich schwarze Mascaraschatten unter ihren Augen. Mehr Seife. Das Brennen in den Augen verstärkt sich, doch lenkt es sie von dem Schmerz in der Brust ab. Das Brennen wird so stark, dass sie die Augen nicht mehr öffnen kann, sie greift nach einem Handtuch und drückt es sich fest mit den Fäusten in die Augäpfel. Sie setzt sich auf den Klodeckel und schluchzt in das Handtuch.
Draußen ist ihr kalt. Sie trägt ihren schwarzen Jogginganzug, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Sie starrt auf die Straße. Das Licht ist diffus, der Himmel bedeckt. Grau. Nur einen Fuß vor den anderen setzen. Und atmen. Die Welt um sie herum wird sich weiterdrehen.
Sie drückt die Klingel zur Praxis. Der Summer ertönt. Mit ihrem Turnschuh tritt sie die Tür auf, die Hände bleiben tief
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