Tessa
Kisten und Kästen voll Weinflaschen starren sie an. Sie kramt in ihrer Hosentasche und fischt nach Geld. Ein abschätzender Blick in ihre Handfläche, etwa zehn Euro. Das wird nicht für das Antidepressivum und das neue Barbiturat reichen. Sie faltet ordentlich das Rezept in immer kleinere Quadrate und schiebt es zurück in die Hosentasche. Sie wechselt die Straßenseite und betritt den Edeka, zielstrebig geht sie zum Weinregal, sie muss nicht weit laufen, da sich der Alkohol nahe dem Eingangsbereich befindet. Sie bückt sich und greift nach der Anderthalb-Liter-Flasche im untersten Regal, sieht sich hastig um, ob sie kein bekanntes Gesicht erkennt. Sie schämt sich, mit der billigen Flasche zur Kasse zu gehen. Die Kassiererin sieht sie unfreundlich an. Tessa versucht, sie nicht weiter zu beachten. Und kauft noch eine Schachtel Zigaretten. Auf der Straße umschlingt sie die Flasche mit ihren Armen und macht sich auf den Heimweg.
Die Flasche hat einen Schraubverschluss, entdeckt sie enttäuscht, nachdem sie die Banderole entfernt hat, aber wenigstens muss sie jetzt nicht wieder den Korkenzieher suchen. Der Wein schmeckt wässrig, aber die anderthalb Liter werden länger halten. Eventuell kann sie sich danach gleich wieder schlafen legen. Morgen will sie überlegen, wie sie an das Geld für die Medikamente kommt. Sie sitzt am Küchentisch und spielt mit dem Weinglas. Mit jedem Schluck geht es ihr besser. Sie sollte etwas tun. Mit dem Glas in der Hand geht sie ins Schlafzimmer. Vielleicht sollte sie ihre Kleider sortieren? Rausschmeißen oder auch nur den dreckigen Teil in die Waschmaschine packen. Der Gedanke, sich zu bücken, lähmt sie. Sie trinkt einen großen Schluck, dann lässt sie sich nach hinten aufs Bett fallen. Das Glas fest in der Hand. An der Zimmerdecke entdeckt sie eine Spinne mit langen, dünnen Beinen und einem kleinen, dunklen Knopfkörper. Vielleicht sollte sie sich anziehen und rausgehen. Ihr Blick wandert weiter zur runden weißen Deckenlampe, die dick mit Staub bedeckt ist. Sie könnte vielleicht ein Staubtuch holen und die Lampe abwischen. Aber besitzt sie überhaupt ein Staubtuch? Sie richtet sich wieder auf, um einen weiteren Schluck zu trinken. Der Boden vor ihren Füßen ist mit Klamotten bedeckt. Staubflusen fliegen umher. Staub kommt immer wieder zurück, egal, wie gut man beim letzten Mal sauber gemacht hat. Sie versucht sich zu erinnern, wie lange das her ist, aber die Tage verschwimmen. Und plötzlich wird ihr ihre eigene Verwahrlosung bewusst. Die schwarzen Stoppeln an ihren Unterschenkeln werden zur Bedrohung, und der üble Schweißgeruch ihrer unrasierten Achseln beißt in der Nase.
Nachdem sie geduscht, sich rasiert und ihre Augenbrauen wieder in Form gezupft hat, macht sie sich im Bademantel und mit einem Handtuch um den Kopf geschlungen auf den Weg, den Wein zu suchen. Das leere Glas findet sie verlassen auf dem Herd stehen, halb verborgen zwischen dreckigem Geschirr entdeckt sie auch die Flasche Wein. Als sie danach greifen will, wird ihr schwindlig, und mit beiden Händen muss sie sich am Küchentresen festhalten. Noch bevor sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hat, greift sie nach dem Glas. Gierig trinkt sie, doch muss fast loskotzen, nur mit Mühe behält sie den Wein bei sich. Sie müsste was essen, ihr Magen ist nur deshalb so unruhig, denkt sie, und mit dem Glas in der Hand geht sie zum Kühlschrank. Leere starrt ihr entgegen. Und so entscheidet sie, sich zu maniküren. Nachdem sie alle Fingernägel rot lackiert hat, legt sie sich ins Bett, um sich auszuruhen. Nur bis der Lack getrocknet und sich ihr Kreislauf wieder erholt hat. Sie schiebt den Vorhang zur Seite, um den dunklen Abendhimmel zu betrachten. Sie muss raus, kann nicht mehr in der Wohnung bleiben. Sie springt auf, um ins Badezimmer zu gehen. Das Glas stellt sie auf dem Waschbecken ab und zieht an den Haaren. Sie sind etwas länger geworden. Sie öffnet den Badezimmerschrank, stylt sich das Haar. Sie nimmt das Make-up und verteilt es sich ordentlich im Gesicht. Mit dem Mascara tuscht sie die Wimpern. Ein Hauch Farbe auf den Wangen belebt ihr Gesicht. Sie schlüpft aus dem Bademantel, lässt ihn zu Boden gleiten. Sie greift nach dem Glas und geht zurück in die Küche. Die Flasche ist wieder fast alle, irgendwann sind sie das alle, denkt sie deprimiert. Der Wein füllt glucksend das Glas, die letzten Tropfen springen hinterher. Während sie in den Flur geht, trinkt sie vorsichtig ab. Sie stellt sich vor den
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