Tessa
in den Taschen. Sie betritt den überheizten Raum. Die Kälte fällt von ihr ab, dafür fängt sie an zu schwitzen. Ihr ist übel. Sie stellt sich an die Anmeldung. Die Praxishelferin schaut nicht sofort auf, sondern schreibt in ihren Kalender. Tessa starrt sie feindselig an.
Die Praxishelferin hebt den Kopf und sieht nur einen kurzen Moment in ihre Richtung, ohne sie wirklich anzusehen. »Ihr Name?«
Sofort schwenkt der Blick zurück auf ihren Kalender. Vielleicht würde sie ihren Namen erraten, wenn sie sich nur die Mühe geben würde, die Patienten anzusehen. Seit wie vielen Jahren kommt sie nun in diese Praxis?
Die Sprechstundenhilfe sieht wieder zu ihr auf. »Ihr Name, bitte?«
Diesmal begegnen sich ihre Blicke, und Tessa gibt ihr eine Chance. »Ich habe keinen Termin.«
Die Praxishelferin schüttelt den Kopf mit einer Heftigkeit, als wäre eine persönliche Katastrophe eingetreten. »Nein, dann tut es mir leid, aber Sie müssen sich einen Termin geben lassen.« Ihre flinken Hände blättern eifrig im Kalender.
Tessa starrt sie weiter an. »Ich kann nicht warten. Ich muss Frau Doktor Legemann jetzt sofort sehen.«
»Sofort schon gar nicht, junges Fräulein.«
»Wie bitte?«
»Sie brauchen einen Termin.«
»Das haben Sie bereits gesagt, aber ich habe keinen scheiß Termin. Mir geht es beschissen, und ich habe keine scheiß Tabletten mehr.«
»Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal.«
»Dann lassen Sie mich jetzt mit Frau Doktor Legemann sprechen.«
Mit ihrem Arm fegt Tessa das Bonbonglas auf dem Tresen zur Seite. Laut krachend fällt es herunter, und erschrocken starrt Tessa auf den Boden. Die Sprechstundenhilfe japst, und Tessa bückt sich schnell, entschuldigt sich und versucht die Bonbons wieder einzusammeln und in die große Öffnung des Glases zurückzustopfen. Ihre Hände zittern, und sie versucht ihre Tränen zu unterdrücken. Die Sprechstundenhilfe ist aufgesprungen, schaut sie entsetzt an und verschwindet. Tessa hockt auf dem Boden, ihre Kapuze ist verrutscht, und schnell schiebt sie sie wieder über ihren Kopf. Sie starrt den alten Teppich an und kann plötzlich ihren eigenen Schweiß riechen. Sie will aufstehen, sie schämt sich, will verschwinden. Aber sie braucht auch diese scheiß Medikamente. Sie versucht, sich auf ihren Atem zu konzentrieren. Die Sprechstundenhilfe kommt zurück, Tessa sieht die hässlichen orthopädischen Latschen. Sie hört sie auf ihren Schreibtischstuhl plumpsen und sich auf den Rollen zurück an den Tisch schieben. Ihr Übergewicht hindert sie an einem kraftvollen Schub. Tessa richtet sich wieder auf und starrt die Sprechstundenhilfe an, die sich das restliche Stückchen mithilfe ihrer Hände an den Tisch zieht, bis ihr dicker Bauch von der Tischkante leicht eingedellt wird. Sie schreibt wieder fleißig in ihren Kalender.
»Und?«, fragt Tessa.
Die Sprechstundenhilfe schaut nicht auf. »Frau Doktor kommt sofort«, spricht sie in ihren scheiß Kalender.
Die Eingangstür öffnet sich mit einem automatischen lauten Summen. Ein Mann, der fast genauso fettiges Haar wie sie hat, betritt die Praxis und stellt sich dicht hinter Tessa. Die Sprechstundenhilfe schaut ihn erwartungsvoll an. Tessa versucht ihren Blick zu erhaschen, um sie hasserfüllt ansehen zu können. Der Mann tritt unsicher von einem Bein auf das andere. Über Tessas Schulter hinweg fragt die Sprechstundenhilfe nach dem Namen des Mannes und versucht Tessa zu ignorieren. Aus dem Augenwinkel sieht Tessa Doktor Legemann sich nähern. Stolze Schritte in ihrer Praxis. Tessa wendet schnell den Blick ab, starrt an den Wandkalender und will sich klein machen. Verschwinden. Frau Doktor Legemann umrundet den Tresen, stellt sich hinter die Sprechstundenhilfe und sieht Tessa direkt an.
»Frau Behn, nehmen Sie noch einen Moment im Wartezimmer Platz.«
Tessa nickt leicht und setzt sich.
Es dämmert, als Tessa die Praxis verlässt. In der Hand hält sie ihr Rezept. Vielleicht sollte sie beim nächsten Mal erwähnen, dass sie zur Zeit etwas mehr trinkt. Aber sie wird von ihrer Psychiaterin auch nicht danach gefragt. Vielleicht ist es besser so, vielleicht würde sie ansonsten daraus das Problem machen. Sie braucht nur die richtige Dosis Medikamente, sie will versuchen, sie ab jetzt regelmäßig zu nehmen, damit sie richtig wirken können, das hatte die Ärztin heute auch wieder betont, und das macht auch Sinn. Irgendwie jedenfalls. Sie blickt in das Fenster der Weinhandlung, und ihre Schritte verlangsamen sich,
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