Tessa
Spiegel und betrachtet sich nackt. Sie dreht und wendet sich und hat nichts auszusetzen. Sie geht weiter ins Schlafzimmer, sucht in der Kiste nach sauberer Unterwäsche, doch sie findet keine. Um sich von der Enttäuschung zu erholen, setzt sie sich wieder aufs Bett. Und nippt am Glas. Je mehr Wein sie trinkt, desto weicher läuft er ihre Kehle hinab. Aber wo soll sie bloß hingehen, wenn sie angezogen ist? Erst einmal nicht denken, sie kniet sich hin und greift in die andere Kiste, um nach einer Strumpfhose zu suchen. Sie findet auch tatsächlich eine weiße, die noch nicht kaputt oder dreckig ist. Sie zieht sie an. Ein schwarzes Kleid darüber. Ihre schwarzen Peeptoes. Sie setzt sich wieder auf die Bettkante. Und jetzt?
Sie trinkt den Wein aus. Als sie aufsteht, wird ihr schummrig, und sie will sich festhalten, sucht Halt, sie greift nach der Kleiderstange, die laut krachend umfällt. Sie springt einen Satz nach hinten. Und sieht, wie sich auch der Rest ihrer Klamotten auf dem Boden verteilt. Sie schüttelt angewidert den Kopf. Geht in den Flur, bückt sich zum Handy, das einsam und verlassen daliegt. Das kleine schwarze Ding liegt tot und schwer in der Hand. Sie drückt auf den On-Knopf, nichts passiert, drückt nochmals, nichts passiert. Sie schmeißt das Handy zurück auf den Boden. Greift nach dem Mantel und knöpft ihn langsam zu. Steckt die Hände in die Manteltasche, spürt die harten Kanten des Schlüssels und verlässt die Wohnung. Vor ihrem Haus kann sie sich für keine Richtung entscheiden. Ihr ist kalt, und vielleicht sollte sie wieder noch oben gehen. Sie hebt den Kopf in den Himmel und entscheidet sich, erst einmal loszugehen.
Vor Jens’ Haustür bleibt sie stehen. Sie kann sich nicht an seinen Nachnamen erinnern. Vielleicht sollte sie weitergehen. Sie sieht sich die Namen auf dem Klingelschild an. Keiner kommt ihr bekannt vor. Sie klingelt irgendwo. Der Summer ertönt, und schnell drückt sie die Tür auf. Im Vorderhaus steigt sie die Treppen hoch. Ihre Strumpfspitzen sind jetzt grau und unangenehm nass. Sie wendet schnell den Blick ab, nicht hinschauen hilft. Ihr Herz pocht. Im zweiten Stock glaubt sie sich zu erinnern. Sie läuft noch ein weiteres Stockwerk höher. Aber der Mieter heißt Hermann. Jens Hermann – nein, wahrscheinlich würde sie ihn ansonsten Hermann nennen. Wieder runter. Unentschlossen bleibt sie vor der Wohnungstür stehen. Sie hält kurz ihr Ohr an die Tür, lauscht und glaubt Fernsehgeräusche zu hören, aber sie ist sich nicht sicher. Sie zögert. Vielleicht will er nicht, dass sie kommt. Dann geht sie halt wieder. Ihren Mut zusammennehmend, stellt sie sich aufrecht hin und klingelt. Still steht sie da und hält den Atem an. Hinter der Tür sind Schritte zu hören. Sachte klopft sie an die Tür. Sie versucht sich an sein Gesicht zu erinnern, aber es fällt ihr schwer, und als er die Tür aufmacht, ist sie für einen Moment enttäuscht. Sie lächelt ihn trotzdem tapfer an, sagt aber kein Wort. Verwundert sieht er sie an.
»Tessa? Hallo.« Sein Lächeln bleibt distanziert.
Plötzlich schämt sie sich schrecklich, der Wein hat seine Wirkung verloren. »Ich weiß auch nicht, ich wollte nur ›Hi‹ sagen.« Unsicher hebt sie die Hand und winkt, senkt sie aber schnell wieder, als ihr die Geste bewusst wird. »Ich geh dann mal wieder«, flötet sie, und ihre Stimme klingt zu hoch. Hastig dreht sie sich um und greift nach dem Treppengeländer.
Jens berührt ihren Arm und schüttelt amüsiert den Kopf. »Magst du vielleicht reinkommen?«
Sie nickt und betritt wortlos die Wohnung. Ihre Absätze klacken laut auf dem Parkett im Flur, und der unerwartete Krach lässt sie erschrocken stehen bleiben. »Hast du vielleicht auch was zum Trinken?«, fragt sie und versucht, dabei normal zu klingen.
»Ja, komm mit in die Küche«, sagt Jens, und sie folgt ihm. Seine Wohnung ist größer, als sie sie in Erinnerung hat. Die Zimmer sind großzügig geschnitten. Die Küche ist ganz in Weiß gehalten, ordentlich befindet sich alles an seinem Platz. Auf dem Tisch steht eine imposante Obstschale, ein einzelner Apfel ruht ordentlich mit dem Stängel nach oben darin. Wahrscheinlich darf man den nicht essen. Jens öffnet den Kühlschrank und holt eine Flasche Weißwein heraus. Die Flasche Champagner im Seitenfach entdeckt Tessa ebenfalls, doch wahrscheinlich hebt er den für besonderen Besuch auf, und der Gedanke kränkt sie. Jens holt einen Edelstahlkorkenzieher aus der Schublade, öffnet
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