Tessa
und beobachtet den Wein seine Runden laufen. Nippt nur vorsichtig daran. Der Wein schmeckt voll und erkämpft sich seinen Platz in ihrem Rachen. Jens greift wieder nach ihrer Hand und schaut sie liebevoll an.
»Warst du schon mal in Südfrankreich?«
Tessa schüttelt den Kopf. Ist sprachlos.
»Wir könnten dort hinfahren. Ein langes Wochenende vielleicht.«
Ihr Leben ist ein langes Wochenende. Was soll sie mit Jens in Südfrankreich? Sie muss ihre scheiß Miete hier erst einmal zahlen. Er sieht ihr in die Augen, doch sie kann seinen Blick nicht ertragen. Plötzlich findet sie ihn hässlich, seinen Kopf zu groß, seinen Hals zu kurz, seine Nase zu breit, seine Lippen zu dünn, seine Augen stechend. Fremd sitzt er ihr gegenüber. Hitze steigt ihr in den Kopf. Er sieht sie erwartungsvoll an und tätschelt ihre Hand, sie zieht sie weg. Sie muss verschwinden. Schwankend steht sie auf, sucht nach dem Gleichgewicht und hält sich am Tisch fest. Ihr Blick trifft Jens, der sie fragend ansieht, als schwebe die Frage noch immer in der Luft. Was war die Frage? Sie nickt ihm kurz zu und zuckt mit den Schultern. Das scheint ihm zu reichen, er nimmt sein Weinglas. Und Tessa sieht sich nach den Toiletten um. Ein Kellner errät ihre fragende Pose und deutet auf eine Tür hinter der Bar. Sie setzt sich in Bewegung, und beim Umrunden des Nachbartisches verliert sie kurz wieder das Gleichgewicht. Sie hält sich an der Tischkante des fremden Tisches fest und zwinkert dem dort sitzenden älteren grauhaarigen Mann zu. Den bösen Blick der Frau, die ihm gegenübersitzt, versucht sie zu übersehen.
Im Waschraum lehnt sie sich an die Wand und lässt sich langsam zu Boden gleiten. Das helle künstliche Licht blendet sie. Die Knie angewinkelt, hockt sie auf dem Boden, versucht die Beine zusammenzuhalten, damit man ihr nicht in den Schritt sehen kann – obwohl die Toilettenräume leer sind. Sie nimmt den Kopf in die Hände. Vielleicht sollte sie einfach gehen. Nur weg hier. Es war eine schlechte Idee. Aber ihr Magen tut weh, vielleicht vom Hunger. Sie sollte was essen. Wann hat sie das letzte Mal etwas gegessen? Als die Toilettentür aufgestoßen wird, zuckt Tessa zusammen. Eine ältere Frau im Chanel-Kostüm kommt herein, sieht sie missbilligend an.
»Stehen Sie an?«, fragt sie Tessa von oben herab.
»Ja, sieht man doch«, antwortet Tessa, ohne aufzublicken.
»Sind denn alle Toiletten besetzt?«, fragt die Dame weiter.
»Ja.«
Zweifelnd blickt die Frau auf die Kabinen, eine Tür ist nur angelehnt. Vorsichtig tritt sie darauf zu und stößt behutsam mit ihrer Hand dagegen. Die Frau dreht sich ruckartig zu Tessa um und sieht sie geringschätzig an. Tessa starrt ausdruckslos zurück. Die alte Dame schlägt energisch die Klotür zu, der dumpfe Knall lässt Tessa erneut zusammenzucken. Sie rappelt sich auf. Sie hört das Rascheln von Stoffen. Mit weichen Knien geht sie zum Spiegel. In ihrer Handtasche kramt sie nach dem Lippenstift und malt sich die Lippen rot nach. Ihre Hände zittern. Sie hört die Frau im Chanel-Kostüm pinkeln. Ihr wird schlecht. Sie muss hier raus.
Langsam geht Tessa wieder zum Tisch zurück, das Kerzenlicht beruhigt sie. Sie bemüht sich, gerade zu gehen und den Rücken durchzustrecken. Sie setzt sich wieder Jens gegenüber, doch meidet sie seinen Blick. Der Kellner kommt mit dem Essen. Zartes Fleisch. Nach wenigen Bissen verliert sie den Appetit und legt ihr Besteck zur Seite.
»Geht es dir gut, Tessa?«
Wieder will er nach ihrer Hand greifen. Doch diesmal ist sie schneller und hat das Besteck schon wieder in den Händen.
»Sehe ich schlecht aus?«, fragt sie ihn, während sie sich ein klitzekleines Stück Fleisch abschneidet und langsam in den Mund schiebt.
Auch er hat sein Besteck wieder in die Hände genommen. Er schüttelt den Kopf. »Nein.«
»Glaubst du, dass Leiden nur eine Option ist?«
Jens blickt auf. »Wie bitte?«
»Ach, nichts. Mein Handy funktioniert nicht mehr.«
»Ich habe noch ein altes, das ich dir geben kann.«
»Das wäre schön«, sagt sie, und fast glaubt sie es auch.
Das zarte Lamm hat etwas Grundlage in ihrem empfindlichen Magen geschaffen, und sie kriegt den Wein jetzt wieder besser runter. Ihre Laune hat sich auch gebessert. Und sie hört Jens zu, wie er von seinem letzten Besuch in Frankreich berichtet. Sie nickt an den passenden Stellen, auch wenn es sie nicht im Geringsten interessiert. Sie erzählt sogar auch eine kleine Anekdote aus ihrer Kindheit, als sie mit
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