Tessy und die Zärtlichkeit des Kommissars
hier.“
Wildorn trank zunächst einen Schluck. „Ich fürchte, Patrick hat privat ein ganz anderes Bild vermittelt, als ich es von ihm gewann. Er war ein guter Buchhalter, sogar ein Bilanzprofi und immer auf dem neuesten Stand, was steuerliche Änderungen betraf, aber sonst …“ Sie machte eine kurze Pause, und Tessy gönnte sich einen langen Blick in das strahlende Blau ihrer Augen. „Patrick war eine unsichere Persönlichkeit – und gerade in den letzten Jahren hat sich diese Tendenz deutlich verstärkt –, er hatte keine Führungsqualitäten und handelte häufig phantasielos, was insbesondere im Bereich der Unternehmenssanierung ein Manko ist. Darüber hinaus war er mit seinem Suchtproblem alles andere als fertig.“
Tessy zuckte unangenehm berührt zusammen. „Sie meinen, er trank noch?“
„Das weiß ich nicht und möchte ich auch nicht behaupten, selbst wenn ich es vermuten würde. Aber ich weiß, dass er einen stetigen Kampf geführt hat. Einige Kollegen hatten bereits eine Wette darauf abgeschlossen – selbstverständlich nur hinter vorgehaltener Hand –, wann er rückfällig werden würde. Natürlich hat er den Job nicht bekommen“, bekräftigte Wildorn mit ernster Miene. „Hätten Sie einen Mitarbeiter mit einem solchen Problem befördert?“
Tessy schwieg betroffen. Damit hatte sie nicht gerechnet, und dass Kerstin diese Ansicht empört und verletzt abwehren würde, war auch klar. Andererseits: Warum sollte die Wildorn Mist erzählen? Tessy konnte sich zwar gut vorstellen, dass die Frau nicht lange zögerte, wenn es darum ging, ihre Interessen oder die der Firma durchzusetzen, und dass sie Patrick nicht sonderlich geschätzt hatte, war auch deutlich zu spüren, aber hier oder bei der Polizei im Zusammenhang mit einem tragischen Todesfall hanebüchenen Unsinn zu erzählen, wäre ganz schön dumm gewesen. Schließlich konnten zahlreiche Kollegen befragt werden, was Hanter ja offensichtlich getan hatte, und es war unwahrscheinlich, dass alle nach Wildorns Pfeife tanzten.
„Möchten Sie noch mehr hören?“
Tessy biss seufzend von ihrem Kuchen ab und nickte dann. „Ja, doch. Wenn wir schon dabei sind … Was ist eigentlich mit den Akten, die bei Patrick zu Hause gefunden wurden?“
„Was soll damit sein? Er hatte sie aus der Firma mitgenommen.“
„Der Punkt stimmt mich ein bisschen nachdenklich“, meinte Tessy. „Warum lässt er die Akten so offensichtlich herumliegen, während er alle Daten vom PC löscht? Und hätte er beim Klauen nicht etwas geschickter vorgehen können?“
Wildorns Mundwinkel zuckten. Sie verkniff sich ein Lächeln. „Natürlich hätte man geschickter vorgehen oder es am besten ganz bleiben lassen können. Aber für diese Frage bin ich eindeutig die Falsche. Außerdem weiß ja wohl niemand, was er alles auf seinem PC hatte – wenn ich den Beamten richtig verstanden habe, hat Patrick die Festplatte so professionell gelöscht, dass man die Daten nicht wieder herstellen kann.“
„Und um was für Vorgänge handelte es sich bei den Akten, die Patrick zu Hause hatte?“, schob Tessy betont gleichmütig hinterher.
Wildorn wirkte nun deutlich amüsiert. Einen Augenblick sah es so aus, als würde sie in lautes Gelächter ausbrechen. Sie schüttelte den Kopf. „Namen werden Sie jetzt hoffentlich nicht von mir erwarten, aber ich kann Ihnen soviel sagen, dass es sich um neue Mandanten mit umfangreichen Aufträgen handelte. Die wären sicherlich auch für Patricks neuen Arbeitgeber interessant gewesen. Unter Umständen hat er sich ja dort damit gebrüstet, Kundschaft inklusive Originalverträgen, Bilanzen, Gutachten und so weiter gleich mitbringen zu können, und vielleicht war dieser Deal quasi die Voraussetzung für seinen Arbeitsvertrag. Derlei Geschäfte werden manchmal in unserer Branche gemacht – nicht schön, aber wahr.“
„Ich weiß nicht … Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber ich kann mir so gar nicht vorstellen, dass der Patrick, den ich immerhin einige Jahren gekannt habe, derart abgebrüht gewesen sein soll“, gab Tessy zu bedenken.
„Das kann ich gut verstehen. Er war nicht der Typ, nicht auf den ersten Blick, aber sie dürfen mir glauben: Stille Wasser sind tief, und in der freien Wirtschaft wird nicht nur gekuschelt.“
„Ja, das ist offensichtlich. Aber als Sie ihm auf den Kopf zugesagt haben, dass sein Klau bemerkt worden war, da reagierte er plötzlich sehr heftig, oder?“
„Er war schlicht und ergreifend entsetzt, wobei er
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