Testament liegt im Handschuhfach: Unterwegs mit der Mitfahrzentrale (German Edition)
der Lotterie andrehen will.« Nein, so einer ist Johann nicht. Er studiert Design und will möglichst billig nach Berlin.
»Ein Platz ist noch frei«, ruft die Dame ins Telefon. »Aber Sie müssen pünktlich um 15 Uhr am Sonnabend am Hauptbahnhof sein, sonst fahre ich ohne Sie los.« Sofort hat die Frau wieder auf »resolut« umgestellt. »Jaja«, stammelt Johann. Hauptsache, er kann mitfahren. »Aber denken Sie dran, die zehn Euro passend dabeizuhaben. Ich kann kein Wechselgeld geben. Auf Wiederhören und bis Sonnabend.« Dann legt die Frau auf. Ungläubig starrt Johann auf sein Handy. Mit so jemand hat er schon lange nicht mehr telefoniert. Das wird ein Spaß werden mit der als Fahrerin …
Fünf vor drei steht Johann vor dem Treffpunkt am Leipziger Hauptbahnhof. Bloß nicht zu spät kommen! Die Frau fährt eiskalt um 15.01 Uhr ab, ohne ihn mitzunehmen. Eine Minute später biegt ein roter Opel Corsa auf den Parkplatz und hält direkt vor Johann. Der traut seinen Augen nicht. Er hatte eine strenge Mittvierzigerin im Business-Look erwartet. Aus dem Auto steigt eine Frau mit kurzen, weißen, gewellten Haaren. Mit offenem Mund starrt Johann sie an. Sie muss mindestens 70 sein. Mit der Oma hat er vor zwei Tagen telefoniert?! Unvorstellbar. Die kann doch keiner Fliege was zuleide tun. Die schenkt eher jedem Mitfahrer eine Tafel Schokolade. Das am Telefon muss ihre Tochter gewesen sein.
Langsam hinkt die Oma um das Auto herum, ihr linkes Bein zieht sie hinter sich her. ›Oh Mann‹, denkt Johann, ›ob die überhaupt noch Autofahren kann? Wenn die nur halb so langsam fährt, wie sie geht, brauchen wir doppelt so lang.‹ Das kann ja heiter werden. »Guten Tag, mein Name ist Müllleeeer«, sagt sie energisch und streckt Johann die Hand entgegen. »Wir fahren jetzt nach Berlin!« ›Ach du dickes Ei‹, denkt Johann. Doch die Frau vom Telefon, unverkennbar. »Junger Mann, seien Sie so gut und schichten mal das Gepäck im Kofferraum um. Ich darf nicht schwer heben, hat der Arzt gesagt.«
Johann tut, was ihm befohlen ist. Widerworte hätte er sich eh nicht getraut. Oma Müller lässt ihn sonst noch glatt in Leipzig stehen. Als Johann die Heckklappe des Corsa öffnen will, stutzt er. Über dem Nummernschild ist ein Aufkleber angebracht: »Testament liegt im Handschuhfach«. Was soll das denn jetzt? Steht es so schlimm um die Oma, dass sie schon ihren letzten Willen dabeihat, wenn sie fährt? Nicht, dass sie mitten auf der Autobahn plötzlich abnippelt. Dann ist nicht nur ihr Leben vorbei, sondern auch seins.
Am liebsten würde Johann gar nicht bei Oma Müller einsteigen. Aber auch das traut er sich nicht. Die würde ihm eine Standpauke halten und ihm dann trotzdem die 10 Euro für die Fahrt abknöpfen. Mit mulmigem Gefühl setzt er sich auf den Beifahrersitz. Andere Mitfahrer gibt es nicht. Die waren wohl schon am Telefon schlauer und haben sofort abgesagt, als sie die Maschinengewehrstimme hörten. Johann dagegen war der Dumme.
Er starrt auf das Handschuhfach. Ob da wirklich Oma Müllers Testament drin ist? Was dort wohl drin steht? Johann ist neugierig, aber er traut sich nicht, Oma Müller zu fragen. Stirbt sie tatsächlich bald, oder ist sie einfach nur übervorsichtig? Johann hofft auf Letzteres – oder dass sich Oma Müller mit dem Sterben zumindest noch bis Berlin Zeit lässt.
Die ältere Dame hält sich an der Fahrertür fest und lässt sich langsam auf den Sitz plumpsen. Es dauert, bis sie die optimale Sitzposition zum Fahren gefunden hat. Dann greift sie mühsam hinter sich und versucht, den Gurt zu erwischen. Zweimal fischt sie vergeblich, beim dritten Mal bekommt sie ihn zu fassen. Doch jetzt muss er noch ins Gurtschloss. Wiederholt schiebt und drückt sie, aber nie trifft sie die Öffnung. Die Fahrerin beginnt laut zu schnaufen. Das Anschnallen strengt sie nicht nur sichtlich, sondern auch hörbar an. Endlich rastet der Gurt ein. Oma Müller atmet tief durch. Jetzt kann’s losgehen.
Wenn die dafür schon so lange braucht, wie wird dann erst ihr Fahrstil sein? Johann schwant Übles. Wahrscheinlich werden sie mit 20 km/h durch Leipzig schleichen und dann mit 60 auf der Autobahn – als wandelndes Verkehrshindernis. Wenn überhaupt. Denn Oma Müller hat sich beim Anschnallen ziemlich verausgabt. Hoffentlich kriegt sie keinen Herzinfarkt vor lauter Anstrengung.
Dann dreht die Fahrerin den Zündschlüssel um und steigt aufs Gas. Nur war die Handbremse noch angezogen. Der Motor des Corsas heult laut
Weitere Kostenlose Bücher