Testament liegt im Handschuhfach: Unterwegs mit der Mitfahrzentrale (German Edition)
auf, der Wagen bewegt sich nicht. Johann grinst. Oma Müller ist offensichtlich überfordert mit dem Autofahren. Er schaut auf seine Uhr. Normal braucht man von Leipzig bis Berlin zwei Stunden, heute wahrscheinlich noch zwei mehr …
Dann löst Oma Müller die Handbremse, und der Corsa braust plötzlich los. Johann wird in seinen Sitz gedrückt. Er hatte fest damit gerechnet, dass sie jetzt mit Schrittgeschwindigkeit über den Parkplatz fahren würden, doch da hat er sich geschnitten. Seine Fahrerin heizt regelrecht los. Obwohl überall Menschen zu ihren Autos gehen, schaltet Oma Müller bereits hier in den dritten Gang und kurvt mit 40 durch die Parkreihen. Angst, jemanden zu überfahren, hat sie jedenfalls nicht. Erstaunt blickt Johann seine Fahrerin an.
Kaum auf der Hauptstraße, beschleunigt der Opel Corsa auf 60 km/h. Vor ihnen fährt ein Lieferwagen, schnell haben sie ihn eingeholt. »Schlafen Sie doch im Bett«, hört Johann die Oma neben ihm brüllen. Verwundert reibt sich Johann die Augen. Normalerweise sind alte Leute am Steuer ein Bremsklotz, weil sie mit 30 durch die Stadt zuckeln und sich hinter ihnen eine ganze Karawane von Autos staut. Aber diese Oma ist definitiv anders.
Mehrmals schert der Corsa nach links aus, Oma Müller will sehen, ob Gegenverkehr kommt. ›Die will doch nicht …‹, denkt sich Johann. Doch, sie will. Noch ehe der Beifahrer seinen Gedanken zu Ende gedacht hat, schert der Corsa aus und überholt den Lieferwagen. Auf Höhe des Führerhauses dreht sich Oma Müller zum Fahrer des Lieferwagens hin und schüttelt den Kopf. »Ihre Zeit möchte ich mal haben«, brüllt sie und drückt aufs Gas. Vor dem Lieferwagen schert der Opel wieder auf die Spur zurück.
50 Meter vor ihnen springt die Ampel auf Gelb. Jeder andere Autofahrer wäre schon längst auf die Bremse. Doch Oma Müller drückt stattdessen aufs Gas und hält voll auf die Ampel zu. Gerade schaltet sie auf Rot, einen Augenblick später rast der Corsa über die Kreuzung. »War kirschgrün, oder?«, fragt Oma Müller und grinst ihren Mitfahrer an. Auch der muss schmunzeln. Eine Frau, die locker 70 ist, fährt wie ein junger Mann, der seiner Freundin imponieren will. Und dabei auch noch einen knackigen Spruch auf den Lippen.
»Wo haben Sie denn die ganzen Sprüche her?«, fragt Johann. Seine Angst vor der Fahrerin hat er jetzt komplett abgeschüttelt. Er will sie kennenlernen. Die Oma mustert ihn von oben bis unten und antwortet dann: »Junger Mann, das Leben ist nicht immer einfach, aber das werden Sie schon noch lernen. Da ist es gut, wenn man seinen Humor nicht verliert.« Dann erzählt sie, dass ihr Alter ihr schon zu schaffen macht. Gerade das Laufen strenge sie an. »Ich könnte mich jetzt zu Hause hinsetzen und grämen, aber das bringt doch nichts. Da setze ich mich doch lieber ins Auto und besuche eine alte Schulfreundin.« Beeindruckt nickt Johann, Oma Müller ist echt cool für ihr Alter. Die grinst und fügt hinzu: »Wenn ich jetzt schon langsamer gehe, muss ich eben schneller fahren!«
Diesem Motto lässt sie sofort Taten folgen. Kaum ist sie auf der Autobahn, fährt sie auf die Überholspur und lässt Reisebusse, Lastwägen, aber auch Autos hinter sich. Die Tachonadel steht bei 160 km/h, der Motor dröhnt laut. »Schneller kann er nicht«, sagt Oma Müller. »Leider.« Vor ihr biegt ein VW Golf auf die Überholspur. Er fährt vielleicht 20 km/h langsamer. Der Opel Corsa fährt immer dichter auf. Dann blinkt Oma Müller links. Johann ist baff. Er sitzt bei einer 70-Jährigen im Auto, die mit ihrem Corsa mit 160 über die Autobahn heizt und den Blinker auf der Überholspur setzt, weil ein anderes Auto zu langsam ist!?
Doch der Golf reagiert nicht. »Schauen Sie doch mal in den Rückspiegel!«, brüllt Oma Müller. Selbst wenn sie sich aufregt, wird sie nie persönlich. Sie bleibt auch beim »Sie«, wenn sie jemanden beschimpft. Doch es nützt nichts, der VW Golf fährt stur auf der Überholspur. Oma Müller murrt, dann hat sie genug: »Sie haben es so gewollt.« Oma Müller blinkt mit dem Fernlicht dreimal kurz auf – wie ein drängelnder Porschefahrer. Das hat gesessen. Sofort fährt der Golf auf die mittlere Spur, und der Corsa überholt. »Sie haben aber eine lange Leitung«, brüllt Oma Müller zu ihm rüber.
Johann grinst breit. Langweilig wird es jedenfalls nicht. Sie fährt richtig flott, nebenbei erzählt sie von ihrem Leben, dem geschiedenen Mann, den sieben Kindern, den fünf Enkeln. Interessiert
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