Testament liegt im Handschuhfach: Unterwegs mit der Mitfahrzentrale (German Edition)
die Nachrichten denken, überall ist davon die Rede, wie Mönche in Klöstern Schüler missbrauchen oder Pfarrer sich an Kindern vergehen. ›Die sind doch alle schwul‹, denkt sie. Aber stopp. Nur weil Jörg Priester wird, heißt das noch lange nicht, dass er schwul ist und kleinen Jungen an die Wäsche will.
Doro schämt sich, dass sie Jörg so etwas zutraut. Und kommt sich gleich noch schäbiger vor. Der Typ ist so nett und hilfsbereit. Von Hinterlist und Argwohn hat der noch nie was gehört. Sie dagegen ist so ein durchtriebenes Luder. ›Ich muss mich irgendwie bei ihm entschuldigen‹, denkt sie. Doch dann schwankt sie wieder. Der merkt gar nicht, dass ich ihn nach meiner Pfeife tanzen lasse. Er ist einfach glücklich, dass er einem armen kleinen Mädchen wie ihr helfen kann.
Und diese Hilfe braucht Doro heute genau noch ein einziges Mal. Denn ihr ganzes Zeug muss in Göttingen noch in den dritten Stock hoch. Ohne Aufzug. Alleine schafft sie das nicht. Aber Jörg … Irgendwie muss sie ihn dazu bringen, die Sachen nach oben zu tragen. ›Ich bin wirklich ein Miststück.‹ Doro überlegt, ihm mehr für die Fahrt zu zahlen. Aber nimmt ein Mann Gottes überhaupt mehr Geld? Beleidigt ihn das nicht eher?
Je näher sie ihrem Ziel kommen, desto mehr denkt Doro an den letzten Akt. Einmal muss sie ihn noch bezirzen, dann hat sie es geschafft. Der Fiesta fährt durch Göttingen, dann sind sie da. Langsam steigt die Mitfahrerin mit den beiden Kätzchen im Arm aus. Jörg lädt ihre Sachen aus. ›Wie stelle ich es am geschicktesten an?‹, überlegt sie. ›Soll ich ihn fragen, ob er oben noch was trinken will?‹ Bloß nicht, schrickt sie zurück. Nicht, dass er denkt, sie will was von ihm. ›Wenn ich einfach sage, dass ich Rückenschmerzen habe?‹ Das ist zwar gelogen, aber sauschwer sind die Kisten schon. Jedenfalls zu schwer für Doro.
»Darf ich dir helfen, die Sachen in deine Wohnung zu schaffen?«, erkundigt sich Jörg. Doro strahlt, am liebsten hätte sie ihn umarmt. Besser geht’s nicht. Jetzt muss sie ihn nicht mal mehr fragen. Ohne Murren läuft Jörg ein halbes Dutzend Mal in den dritten Stock, bis alle Kisten, Stuhlteile und Katzen endlich oben sind. Völlig außer Atem kommt Jörg nach 15 Minuten mit dem Katzenklo und dem Körbchen unterm Arm oben an. »So«, keucht er. »Das müsste alles sein.«
»Vielen Dank, das ist wirklich wahnsinnig nett von dir.« Doro lächelt ihn an, Jörg freut sich. »Kein Problem. Habe ich doch gerne gemacht. Meinen Mitmenschen helfe ich doch gerne.« Es ist unglaublich, aber er meint das wirklich ernst mit der Nächstenliebe. Mehr Geld will sie ihm jetzt nicht mehr anbieten. Das würde ihn nur kränken. Dann verabschiedet sich Jörg. »Übrigens, wenn du wieder mal mitfahren willst, melde dich. Meine Nummer hast du ja. Ich freu mich.« Dann drückt er Doro die Hand.
Fassungslos schaut sie Jörg nach, als er die Treppen nach unten steigt. Der Typ hat gerade ihren Umzug gemacht, obwohl sie ihm vorher davon nichts gesagt hat. Und er ist nicht die Spur sauer. Im Gegenteil, es hat ihm solche Freude gemacht, dass er sie wieder mitnehmen würde. Das ist schier unglaublich. Doro schämt sich, weil sie ihn so schäbig ausgenutzt hat. Dann nimmt sie ihr Handy und löscht Jörgs Nummer. Sie will seine Gutmütigkeit nicht noch einmal so übel missbrauchen. Das hätte er nicht verdient – und ihr wäre es peinlich.
»Das hätt’ste aber auch echt anmelden können, dass du so einen großen Rucksack hast!« Sandros Stimme klingt ernst. »Äh, sorry, aber … der ist ja gar nicht voll … und … ich kann ihn notfalls auch auf den Schoß nehmen«, stammelt Michael verblüfft und legt seinen Rucksack in den Kofferraum des Kombis. Dort ist noch sehr viel Platz. ›Was ist das denn für einer?‹, denkt sich Michael. Erst bestellt er seine Mitfahrer im strömenden Regen nachts an eine einsame S-Bahn-Station nördlich von München – und zwar genau um 21 Uhr, so dass jeder Mitfahrer 20 Minuten im kalten Regen warten muss, weil die S-Bahn nur alle 40 Minuten fährt. Und dann regt er sich über meinen Rucksack auf. So ein komischer Typ, zumal der Mann mit den dünnen, schulterlangen Haaren ihn nicht ansieht, als er mit ihm spricht.
Nacheinander packen auch die anderen drei Mitfahrer ihre Sachen in den großen Kofferraum. Der Platz reicht locker. Dann gehen die Mitfahrer nach vorn, um in den Kombi einzusteigen. »Halt«, sagt der Mann namens Sandro und schaut wieder auf den
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